Mitten in der Nacht
sie ihre tiefsinnigsten Gedanken, hier träumte sie ihre geheimsten Träume.
Diese Träume hatte sie einmal zugelassen – jene zutiefst weiblichen Träume von Romantik und einem gut aussehenden Mann, der sie liebte, von einem Heim und von Kindern und sonntäglichen Morgen.
Wann hatte sie damit aufgehört?
An jenem klebrig schwülen Sommernachmittag, wie sie sich eingestand. An jenem heißen, dunstigen Tag, als sie den Jungen, den sie mit dem ganzen Ungestüm ihres Herzens und ihrer närrischen Jugend liebte, sich wie ein Tier mit ihrer Mutter auf einer zerlumpten Decke im Marschland paaren sah.
Im Marschland, das ihr gehörte, dem Jungen, der ihr gehörte. Der Mutter, die ihre Mutter war.
Das hatte ihr Leben in zwei Teile gespalten, überlegte sie. In die Zeit davor, als es noch Hoffnung, unschuldige Träume und Vertrauen gab. Und die Zeit danach, als nur noch Ehrgeiz und Entschlossenheit zählten und das unverbrüchliche Gelübde, nie, niemals mehr zu glauben.
Der Junge war jetzt unwichtig, das wusste sie. Sie konnte sich kaum noch an sein Gesicht erinnern. Auch ihre Mutter war, im Kern jedenfalls, unwichtig. Aber der Moment zählte.
Wer weiß, welche Entwicklung ihr Leben ohne ihn genommen hätte? O ja, sie und der Junge hätten sich garantiert bald getrennt. Aber es wäre eventuell auf nette Art geschehen und hätte ihr die zärtliche Erinnerung der ersten Liebe bewahrt.
Doch die drastische Vorstellung von Sex und Verrat hatte sich ihr eingeprägt. In jener Minute hatte sie gelernt, wofür sie sonst Jahre gebraucht hätte. Dass es als Frau nämlich klüger und sicherer sei, selbst das Steuer in die Hand zu nehmen. Männer kamen, Männer gingen, sie zu genießen tat gut.
Sie zu lieben war Selbstmord.
Selbstmord? Sie schüttelte den Kopf, als sie aus dem Wagen stieg. Das war doch wohl ziemlich dramatisch, oder? An einem gebrochenen Herzen starb man nicht.
Er war daran gestorben.
Sie hörte die Stimme direkt in ihrem Kopf. Es war nicht die Stichverletzung gewesen, an der Lucian Manet starb, im Teich verlor er sein Leben.
Es war ein gebrochenes Herz gewesen.
Sie ging ins Haus und sah sofort den Lichtstrahl unter der Tür von Odettes Zimmer. Im Näherkommen hörte Lena das rasche Klopfen von Rufus' Schwanz auf dem Fußboden.
Lena trat ein und legte den Kopf schräg. Odette saß aufrecht im Bett, ein Buch im Schoß, der treue Hund lag zusammengerollt auf dem Fußboden.
»Warum bist du so spät noch auf?«
»Ich warte auf meine Kleine. Ich hatte dich eigentlich erst in ein, zwei Stunden erwartet.«
»Das Geschäft war ruhig, also war ich entbehrlich.«
Odette klopfte einladend aufs Bett. »Du bist zeitig gegangen, weil du meinetwegen in Sorge warst. Das solltest du nicht.«
»Du hast mir immer gesagt, es sei deine Aufgabe, dir Sorgen zu machen.« Lena legte sich auf die Decke, den Kopf in die Armbeuge ihrer Großmutter gekuschelt. »Jetzt ist es auch meine Aufgabe. Es tut mir so Leid, dass sie dir wehgetan hat.«
»Ach Kleines, ich denke, das wird wohl ihre Aufgabe sein. Und sie erledigt sie weiß Gott hervorragend.« Odette streichelte Lenas Haar. »Aber ich habe dich. Ich habe meine Lena bekommen.«
»Ich habe nachgedacht, wie es wohl für dich und Großpapa gewesen mochte, ein Baby großzuziehen, nachdem ihr schon euer eigenes großgezogen hattet.«
»Du hast uns beiden nichts als Freude bereitet.«
»Das brachte mich auf die Manets, die deine Großmutter hierher gebracht haben, als sie noch ein Baby war. Du erinnerst dich doch noch ziemlich genau an sie?«
»Ich kann mich gut an sie erinnern. Du siehst aus wie sie. Das weißt du auch, denn du kennst das alte Foto.«
»Hat sie jemals erwähnt, dass das Herrenhaus ihr gehören sollte?«
»Ich habe sie nie dergleichen sagen hören. Sie war eine glückliche Frau, Lena. Vermutlich glücklicher, als wenn sie unter anderen Umständen im Herrenhaus geblieben wäre. Sie war eine gute Bäckerin, und das hat sie an mich weitergegeben. Auch Geschichten konnte sie wunderbar erzählen. Wenn ich zu ihr kam und eine Weile bei ihr blieb, erfand sie oft welche und erzählte sie, als wären sie echt. Wenn sie gewollt hätte, wäre bestimmt eine Schriftstellerin aus ihr geworden.«
»Sie muss doch an ihre Eltern und an die Manets gedacht haben. Egal wie glücklich sie hier war.«
»Ich denke schon. Sie hat regelmäßig Blumen ans Grab ihres Vaters gebracht. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag.«
»Das hat sie getan? Das hast du mir nie erzählt.«
»Sie sagte,
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