Mitten in der Nacht
weitaus mehr, als sie erwartet hatte. Nicht, dass sie den Geschmack ihres Sohnes in Zweifel gezogen hätte. Aber in ihr hatte sich der Eindruck festgesetzt, das Haus sei in ernsthaft, wenn nicht völlig heruntergekommenem Zustand. Was sie jetzt jedoch sah, waren kultivierte Räume, reizende Details, spiegelndes Glas und Holz.
Und in der Küche sah sie ihren Sohn über die Hand einer sehr ärgerlichen, sehr schönen Frau gebeugt, die ganz so aussah, als könnte sie ihre frühere Drohung in die Tat umsetzen.
»Entschuldigen Sie bitte.« Lena drängte Declan beiseite und begrüßte seine Eltern mit einem kühlen Lächeln. »Ich habe nur eine Tasse fallen lassen. Schön, Sie beide kennen zu lernen.«
Declan drehte sich um und durchwühlte die Schränke. »Du brauchst ein Antiseptikum und einen Verband.«
»Ach, hör auf mit dem Theater. Man könnte ja meinen, ich hätte mir die Hand abgesäbelt. Wenn du nicht Acht gibst, trittst du gleich in die Scherben, und dann bist du schlimmer dran als ich. Tut mir Leid, dass Ihr Empfang so abrupt war«, entschuldigte sie sich bei seinen Eltern. »Ich werde hier nur noch die Scherben wegfegen und aufwischen, dann bin ich weg.«
»Wohin gehst du?«, fragte Declan. »Du hast was zu essen versprochen.«
Sie fragte sich, ob er ihr Zähneknirschen wohl hörte. »Du musst nur den Inhalt dieser Schüssel in eine Bratpfanne schütten, die Gasflamme andrehen, und dann hast du dein Essen.« Sie riss den Besenschrank auf. »Warum bietest du deinen Eltern nicht Kaffee oder was Kaltes zu trinken an nach ihrer langen Reise? Sie haben dich zu mehr Höflichkeit erzogen.«
»Auf jeden Fall«, bestätigte Colleen.
»Verzeihung. Es hat mich ganz aus dem Häuschen gebracht, das Blut der Frau, die ich liebe, auf den Boden tropfen zu sehen.«
»Declan.« Obwohl Lena mit leiser Stimme sprach, war ihre Warnung klar und deutlich.
»Kaffee wäre großartig«, meinte Patrick fröhlich. »Wir sind vom Flughafen direkt hierher gekommen. Wollten dieses Haus sehen – und dich natürlich auch, Dec«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu.
»Wo habt ihr euer Gepäck?«
»Das haben wir ins Hotel schicken lassen. Das Haus hier ist eine Wucht, mein Sohn. Viel Platz für einen Mann allein.«
»Lena und ich wollen vier Kinder.«
Sie schleuderte die Scherben in den Müll und drehte sich zu ihm um.
»Na gut, dann eben drei«, verbesserte er sich, ohne seinen Kurs zu verändern. »Aber das ist mein letztes Angebot.«
»Mir reicht es.« Sie drückte ihm Handfeger und Kehrblech in die Hände. »Feg deinen Dreck allein auf. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt«, sagte sie steif zu Colleen und Patrick. »Ich muss zur Arbeit, bin spät dran.«
Sie verließ das Haus durch den Hintereingang, weil es näher war, und bezwang das wachsende Bedürfnis, die Tür zuzudonnern, dass die Fenster zersprangen.
»Ist sie nicht schön?«, fragte Declan mit einem breiten Grinsen. »Ist sie nicht perfekt?«
»Du hast sie wütend gemacht und in Verlegenheit gebracht«, erklärte Colleen ihm.
»Gut. Auf diese Weise mache ich größere Fortschritte. Erst trinken wir Kaffee, dann führe ich euch durchs Haus.«
Eine Stunde später saß Declan mit seiner Mutter auf der rückwärtigen Galerie, während Patrick – der den Kürzeren gezogen hatte – Sandwiches machte.
Die schlimmsten Nachwehen der Nacht waren verschwunden. Declan hielt dies in erster Linie dem geheimnisvollen Trank zugute, den Lena ihm verabreicht hatte, sowie dem Umstand, sie im selben Raum mit seinen Eltern erlebt zu haben.
Mein Gott, wie er diese vermisst hatte. Erst beim Wiedersehen war ihm aufgegangen, wie sehr sie ihm gefehlt hatten.
»So«, sagte er schließlich, »jetzt sagst du mir, was du denkst.«
»Ja.« Aber sie saß nur da und sah hinaus auf den Garten. »Warm, nicht wahr? Ist doch noch viel zu früh im Jahr für diese Wärme.«
»Eigentlich ist heute sogar eher ein kühler Tag. Ihr hättet vor ein paar Tagen hier sein sollen. Da hätte man hier draußen Eier kochen können.«
Sie hörte den Stolz heraus. »Du warst nie ein großer Freund der Kälte. Selbst wenn wir Skifahren waren, triebst du dich lieber im Haus herum, als die Hänge hinunterzukurven.«
»Ski fahren hat man nur erfunden, um so tun zu können, als würde Schnee Spaß machen.«
»Das werden wir ja sehen, wenn wir dich zur Skisaison nach Vermont einladen.« Aber ihre Hand bewegte sich auf ihn zu und berührte die seine. »Das Haus ist wunderschön, Declan. Selbst das,
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