Mitten in der Nacht
Lederrahmen kam, in dem das Foto einer jungen Frau steckte. »Abigail«, flüsterte sie und ihr wurde weh ums Herz. Ein tief gehender Schmerz.
»Miss Odette hat es mir gegeben. Du siehst ein bisschen aus wie sie.«
»Nein. So unschuldig habe ich nie ausgesehen.«Überwältigt strich Lena mit der Fingerspitze über das junge, hoffnungsvolle Gesicht.
Sie kannte das Foto, hatte es sogar zu einer Zeit ihres Lebens, als sie die Geschichte mit ihrem Geheimnis und ihrer Romantik entdeckt hatte, Stück für Stück eingehend studiert. Während einer Lebensphase, in der sie noch jung genug gewesen war, hinter der Tragödie die Romantik zu erkennen.
»Seltsam«, sagte Lena, »sie hier zu sehen. Einen Teil von mir hier zu sehen.«
»Sie gehört hierher. Wie du auch.«
Sie schüttelte es ab wie das Leid, das diese dunklen, klaren Augen über ihr Herz warfen. Beim Umdrehen musterte sie Declan lange und nachdenklich. Arbeitskleidung, fiel ihr auf, Werkzeuggürtel und Bartstoppeln. Es wurde zunehmend schwerer, ihn sich im Nadelstreifenanzug mit einer schicken Aktenmappe in der Hand vorzustellen.
Es wurde vor allem zunehmend schwerer, sich ihr Leben ohne ihn vorzustellen.
»Warum bist du heute Morgen von mir weggegangen?«
»Hast du meine Nachricht nicht gefunden? Die Jungs mit der Arbeitsplatte.« Er deutete mit dem Daumen rückwärts Richtung Küche. »Ich habe sie anflehen und noch zusätzliches Trinkgeld zahlen müssen, damit sie mich für den Samstagmorgen einplanen. Ich musste einfach hier sein.«
»Das meine ich nicht. Du bist doch nicht in die Stadt gekommen, um zu arbeiten – wie lange noch mal, um sechs Stunden zu bedienen – und mir dann noch eine Fußmassage zu machen, weil du an einem Freitagabend sonst nichts Besseres zu tun hast? Du bist doch gekommen, um Sex zu haben, cher, und bist ohne gegangen. Warum?«
Er spürte, wie die aufkeimende Wut seine gute Stimmung durchlöcherte. »Du bist nicht einfach, Lena. Du hast die Fähigkeit, etwas ganz Einfaches absolut kompliziert zu machen.«
»Die Dinge sind nun mal selten so einfach, wie sie aussehen.«
»Also gut, wir klären das. Ich bin in die Stadt gekommen, weil ich dich sehen wollte. Ich habe bedient, weil ich dir helfen wollte. Ich habe dir die Füße massiert, weil ich mir gedacht habe, du musstest zwölf Stunden pausenlos darauf stehen. Dann habe ich dich schlafen lassen, weil du den Schlaf brauchtest. Hat dir denn noch nie jemand einen Gefallen getan?«
»Männer tun einem in der Regel keinen Gefallen, es sei denn, sie erwarten eine Gegenleistung. Was erwartest du, Declan?«
Er hielt weise den Mund, bis der erste Wutansturm vorüber war. »Du weißt, dass das gemein ist. Solltest du wegen deiner Geld-für-Arbeit-Ethik besorgt sein – ich habe zwanzig Minuten Zeit. Wir können hochgehen, Sex haben, sogar bis zum Ausgleich. Ansonsten habe ich jede Menge zu tun.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen.« Aber sie erkannte sehr deutlich, dass sie es getan hatte. »Ich verstehe dich halt nur nicht. Die Männer, die ich intim gekannt habe, wären höchst irritiert gewesen durch das, was heute Morgen zwischen uns nicht passiert ist. Und das habe ich auch von dir erwartet und hätte dir keinen Vorwurf daraus gemacht. Das hätte ich verstanden.«
»Dann fällt es dir also schwerer zu verstehen, ich könnte um dich so besorgt sein, dass ich Sex erst einmal hintanstelle, damit du ein paar Stunden Schlaf kriegst?«
»Ja.«
»Dann war das womöglich keine Beleidigung. Vermutlich ist das einfach nur traurig.« Er merkte, wie ihre Gesichtsfarbe sich verdunkelte, da diese Worte sie trafen. Verlegenheitsfarbe, wie er sich klar machte. »Für mich läuft nicht alles auf Sex hinaus. Er hilft dabei, die Sache am Kochen zu halten, aber es ist längst nicht der ganze Topfinhalt.«
»Ich weiß gern, woran ich bin. Wenn man nicht weiß, woran man ist, kann man nicht entscheiden, ob man dort auch sein oder welche Richtung man von dort aus einschlagen möchte.«
»Und ich bring dir deinen Kompass durcheinander.«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Gut. Ich bin ein ziemlich angenehmer Typ, Lena, und ich lasse mich nicht mit anderen in einen Topf werfen, mit denen du zu tun hattest. Mit mir wirst du nämlich überhaupt nicht zu tun haben. Wir werden miteinander zu tun haben.«
»Weil du das so haben möchtest.«
»Weil es so ist.« Sein Ton war entschieden und endgültig. »Nichts zwischen uns beiden lässt sich mit etwas vergleichen oder wird sich mit etwas
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