Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
Glas, der wie ein Nest unter der Hallendecke hing. Früher war es wahrscheinlich eine Art Büro gewesen, aus dem man die Arbeiten in der Halle überblicken konnte.
Sie kletterten durch das Fenster. In der linken Ecke stand ein roter Patrol.
Luigi betrachtete das Auto und sah Vittore kritisch an.
„Bist du sicher, Vittore? Das Auto ist rot.“
Vittore zuckte mit den Schultern.
„Überlackiert! Er hat den Wagen gefahren, ich bin absolut sicher!“
Sie schlichen die Treppe hinauf und schauten durch die Fenster des Büroraumes. Auf einem abgewetzten grauen Sofa lag Koller und schlief.
Vittore ging zur Tür und öffnete sie leise. Koller bemerkte die Eindringlinge erst, als sie auf das Sofa zukamen. Er wollte aufspringen, aber Luigi stand bereits so dicht vor ihm, dass er sofort wieder zurückfiel.
„Kennst du mich?“, fragte Vittore. Koller nickte ohne nachzudenken. Dann erst schien ihm klar zu werden, wer die Eindringlinge waren. Er schüttelte den Kopf.
„Nein! Nein, hör zu, das hab ich nicht extra getan. Tut mir echt leid. Ich hab mit dem doch nicht gerechnet. Der hat mich so angestarrt, ich dachte …“
Luigi zog ihn hoch. Sein erster Schlag traf Kollers Kinn.
16
Die nächsten zwei Jahre liegen wie eine unwegsame Weite in ihrer Erinnerung. Ein Gelände mit Abgründen und Höhen, Sümpfen und selten begehbaren Wegen. Sein Gelände! Er schlägt sie und immer öfter auch die Kinder. Oft tänzelt er vor dieser Schwelle, demütigt sie, beleidigt sie vor den Kindern. Diese Verletzungen sind nicht sichtbar, scheinen sie aber umso mehr zu schwächen.
Sven ist ihm ein Dorn im Auge. Sie erträgt nicht, wenn er den Jungen oder Julia schlägt, dann wacht sie auf aus ihrer Lethargie und droht zu gehen. Das verunsichert ihn und er verlässt schimpfend das Haus.
Sie haben auch gute Zeiten. Ausflüge in die Umgebung, ein Tag im Freizeitpark, harmonische Weihnachten, eine Dampferfahrt auf dem Rhein, Sommerabende, an denen sie grillen und die Kinder auf ihren Schößen einschlafen.
Nur noch selten trifft sie Nicole und Martin, spricht nie wieder von ihrem Mann, und die beiden fragen nicht. Unter banalen Gesprächen wächst eine Verschwiegenheit, die diese Freundschaft nicht verkraftet. Die diese Freundschaft auffrisst.
Im Sommer 1999 bringt sie Daniel zur Welt und Sven kommt in die Schule. Daniel ist vom ersten Tag an ein unruhiges Kind und kostet ihre ganze Kraft. Vier Monate später, am Dienstag nach dem zweiten Advent, muss sie zum Elternabend. Er passt auf die Kinder auf. Als sie gegen zweiundzwanzig Uhr nach Hause kommt, ist das Haus hell erleuchtet, sein Auto steht nicht in der Auffahrt.
Sie rennt!
Julia läuft ihr entgegen und klammert sich an sie. Sven sitzt im Wohnzimmer, hat eine Platzwunde am Kopf und blutet aus der Nase. Neben ihm liegt Daniel, er schreit ohne Unterlass. Es ist dieses Schreien, das ihre überschlagenden Gedanken zum Stillstand bringt. Es ist dieses Schreien, das sie schuldig spricht.
Sie ruft ein Taxi, packt für sich und die Kinder ein paar Sachen zusammen und fährt ins Krankenhaus. Sven hat am ganzen Körper Prellungen, Daniels Arm ist gebrochen. Aus Svens stockenden Erzählungen ergibt sich erst weit nach Mitternacht ein Bild.
Daniel hatte geweint und sich nicht wieder beruhigen lassen. Er war wütend geworden, hatte das Kind am Arm aus dem Bettchen gezerrt und auf das Ehebett geworfen. Sven war dazugekommen und wollte sich schützend vor seinen Bruder stellen.
Der Arzt informiert die Polizei. Zwei Tage bleibt sie mit ihren Kindern im Krankenhaus. Dann zieht sie mit Julia und Sven ins Frauenhaus, Daniel bleibt noch weitere zwei Wochen in der Klinik. Als sie ihn mitnehmen kann, gibt der Arzt ihr eine Karte von einer Beratungsstelle für Behinderte. Entwicklungsverzögert, sagt er. Das müsse man im Auge behalten. Sechs Wochen bleibt sie im Frauenhaus. Mit Hilfe der Sozialarbeiterin findet sie eine Wohnung in einem Hinterhaus mitten in der Stadt. Kein Haus im Grünen, aber sie streicht die Wände in Apricot, Hellblau und Gelb, überarbeitet gebrauchte Möbel in passenden Farben und näht Vorhänge. Sven geht in eine andere Schule, Julia in einen anderen Kindergarten. Nur Daniel macht ihr Sorgen. Sein Greifen ist unkoordiniert, er schreit immer noch viel und stellt sich nicht auf, wie die anderen beiden es in seinem Alter getan haben.
Das Geld ist knapp, sie kommt kaum über die Runden.
Im Rückblick erscheint es ihr wie eine geflüsterte Zeit. Ein Vakuum, in dem sie wieder
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