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Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Titel: Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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der Einrichtung abgibt, sieht sie die misstrauischen Blicke der Erzieherinnen, weicht ihnen aus, duckt sich unter dem Verdacht.
    Dann wird sie zu einem Gespräch gebeten. Die Kindergartenleiterin, die Frau vom Jugendamt, die Gruppenerzieherin, der Psychologe und ein Praktikant, der Protokoll führen soll. Sie bieten ihr einen Sessel an, in dem sie tief einsinkt, mit jedem Satz, den sie hört, tiefer und tiefer. Man verstehe ihre Überforderung und wolle helfen. Ob es nicht besser sei, wenn Daniel in ein spezielles Heim oder eine Pflegefamilie käme! Es gäbe da eine Einrichtung in Dortmund. Franziskusheim. Sie würden vorschlagen …
    Die Armlehnen des Sessels, rund, dunkelblau. Wellen, die auf sie zurollen.
    Sie schnappt nach Luft. Ertrinkt im Verständnis der Menschen um sich herum. Dieses Verständnis für Dinge, die sie nicht getan hat. Sie schlagen vor. Sie schlagen. Sie schlagen.
    Bedenkzeit gesteht man ihr zu. Vierzehn Tage Bedenkzeit.
    Was sie bedenken soll, fragt sie. Sie habe keines ihrer Kinder je geschlagen.
    Sie sitzen um sie herum, wechseln Blicke und schweigen. Die Frau vom Jugendamt sagt: „Frau Koller, Sie wissen aber doch, dass der Vater der Kinder vor einem Monat in seinem Prozess etwas anderes ausgesagt hat.“
    Der Zorn, der in ihr aufsteigt, ist weiß und ruhig. Beißende Kälte. Ganz langsam erhebt sie sich aus ihrem Sessel und geht zur Tür.
    „Aber Sie wissen auch, was die Kinder in Gegenwart des Arztes gesagt haben, und Sie wissen auch, dass ich auf einem Elternabend war.“
    Der Psychologe spricht es aus. „Sehen Sie, Frau Koller, bei der Aussage der Kinder waren Sie zugegen. Ihr Mann ist nicht verurteilt worden. Die Vorgänge schienen dem Gericht eher unklar. Außerdem ist ihm ein Besuchsrecht zugesprochen worden, dass Sie bis heute boykottieren.“
    Er steht auf, kommt auf sie zu. „Bitte setzen Sie sich wieder. Sie müssen schon kooperieren. Wir wollen Ihnen doch helfen.“
    In ihrer Erinnerung sieht sie sich den Flur entlangrennen. Wie in einem Albtraum scheint er ins Endlose zu wachsen. Als sie endlich den Ausgang erreicht, fällt herbstliche Kühle sie an. Es sind nur wenige hundert Meter nach Hause, aber sie läuft vorbei an den verwitterten Fassaden, vorbei an dem Torbogen bis zum alten Markt. Einen Augenblick hält sie inne, spürt die Tränen auf dem Gesicht. Durch das Krantor läuft sie zum Wasser. Wieder rennt sie. Rennt die Rheinpromenade entlang zum Rheinpark. Hier setzt sie sich auf eine Bank. Die hohen Bäume herbstschwer unter einem grauen Himmel. Vogelrufe legen sich über das ferne Rauschen der Straße. Lange sitzt sie unter diesen Blätterkuppeln aus Braun, Rot und Gelb, die sich schützend über das kleine Haus mit roten Fensterläden, über den Spielplatz und über sie breiten. Es kommt ihr vor, als säße sie in einem Bild. Ein gestohlener Raum. Eine Zeit, die sich über die Ereignisse legt und sie auslöscht.
    Hier erlebt sie zum ersten Mal dieses Schweben. Diese Leichtigkeit, mit der sie sich von allem trennt. Diese Leichtigkeit, mit der sie Erinnerungen sortiert und nur die erträglichen bewahrt. Als sie aufsteht, um nach Hause zu gehen, hat sie den ganzen Vormittag in diesem Park gesessen. Sie weiß noch, dass sie darüber nachdenkt, wie sie hierher gekommen war? Warum sie ihre Wohnung verlassen hatte?

19
    Eilig waren sie nach Hause gefahren, hatten sich gewaschen und umgezogen. Vittore hatte Blut auf dem Hemd. An Luigis Jacke war ein Ärmel gerissen und die Haut an den Fingerknöcheln aufgeplatzt.
    Es war ein Leichtes gewesen. Luigi war Steinmetz von Beruf und gegen die Wucht seiner Schläge hatte Koller keine Chance gehabt.
    Vittore klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Du bist noch ziemlich in Form. Alleine hätte ich den nicht geschafft!“ Sein Schwager winkte ab.
    Er zeigte auf seine Hand. „Was sagen wir Despina, was mit meiner Hand passiert ist?“
    Vittore dachte kurz nach.
    „Wir gehen doch jetzt einkaufen. Du hast dich beim Stapeln der Kisten ungeschickt angestellt.“
    Im Großmarkt packten sie Tomaten, Kopfsalat, Gurken, Paprika und frische Kräuter auf einen Wagen. Während Vittore an der Fischtheke Zander, Steinbutt, Dorsch und Riesengarnelen orderte, kaufte sein Schwager an der Fleischtheke Schweinelachs, argentinisches Rinderfilet und Hähnchenbrust. Eilig verstauten sie die Ware und fuhren zum Krankenhaus.
    Tatsächlich war Despinas erste Frage nicht, was er mit seiner Hand gemacht habe, sondern wo sie so lange gewesen seien und

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