Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
eingerichtetes Wohnzimmer.
Linda wollte weg. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen.
„Frau Koller, wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?“
„Schon lange nicht mehr. Das habe ich doch schon gesagt“, antwortete sie auf diese hilflos aggressive Art, wie Menschen es tun, wenn sie überfordert sind.
„Ja, das haben Sie schon gesagt, aber dass Ihre Verletzungen von einem Treppensturz herrühren, glaube ich Ihnen nicht. Ich glaube, dass er hier war und Sie verprügelt hat“, blaffte Linda zurück.
Ihr Tonfall machte Joop wütend.
Die Koller drehte ihr Gesicht zur Seite. Sie flüsterte: „Er war hier, aber nur kurz.“
Linda setzte nach. „Wann?“
„Vor drei Tagen.“
„Am Donnerstag! Um welche Uhrzeit?“
„Nein, am Mittwoch. Am Mittwochabend!“
„Was ist passiert?“
Martina Koller schwieg.
„Was hat er gewollt, Frau Koller?“ Linda wurde laut.
„Bitte! Bitte wecken Sie die Kinder nicht auf“, flüsterte die Frau und wich zurück.
Joop legte von hinten eine Hand auf Lindas Schulter, versuchte ihr ein Zeichen zu geben, dass das jetzt reichte.
„Wie viele Kinder haben Sie?“, fragte er leise.
Sie beäugte ihn misstrauisch. „Drei.“
Wieder schaltete sich Linda ein. „Seit wann haben Sie keinen Strom mehr?“
Die Frau schnappte nach Luft. „Ich konnte …“ Sie nestelte nervös an ihren halblangen braunen Haaren. „Ich habe Ratenzahlung vereinbart. Ende des Monats ist alles bezahlt. Ich habe Arbeit. Im Drogeriemarkt.“
Van Oss insistierte freundlich. „Frau Koller, aber vielleicht könnte das Sozialamt das mit dem RWE klären.“
Sie ging zum Wohnzimmerschrank, zog hastig eine Schublade auf und reichte ihm ein Papier.
„Hier sehen Sie. Nur noch eine Rate!“
Joop gab ihr das Papier zurück.
„Sagen Sie, Frau Koller, an dem Mittwochabend, war Ihr Mann da anders als sonst?“
Frau Koller zuckte mit den Schultern. „Er war lange nicht mehr hier, und er hat gesagt, er wäre nur vorbeigekommen, um sich für immer zu verabschieden. Er wollte weg.“
Joop lächelte sie an. „Hat er gesagt, mit wem oder wohin?“
„Nein. Nein, ganz bestimmt nicht. Nur, dass er bald Geld hätte und für immer weg wollte.“
„Hat er gesagt, wie er zu Geld kommt?“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das hatte er nicht. Er hatte gedroht, dass er wiederkäme und sie grün und blau schlagen würde, wenn sie es wagte, zum Sozialamt zu gehen oder Unterhalt geltend machte.
Aber das sagte sie nicht.
„Warum hat er Sie geschlagen?“
„Weil der Fernseher nicht ging.“
Linda Vergeest konnte es sich nicht verkneifen. „Das leuchtet ein!“
21
Schon zwei Tage später ändern sich die Dinge. Als sie Daniel aus dem Kindergarten abholt, hat er eine große Beule an der Stirn.
Sie selber kommt gar nicht darauf, es ist die hastige Versicherung der Erzieherin. „Er ist gestürzt. Draußen am Klettergerüst. Hier ist nichts Unrechtmäßiges passiert.“
Sie weiß, dass die Erzieherin die Wahrheit sagt, aber sie sieht auch ihre Chance. Von Dokumentationen war im Gespräch die Rede gewesen. Offensichtlich hatte man Daniel jeden Morgen zuerst nach neuen Verletzungen abgesucht. Sie geht zur Leiterin und will wissen, ob auch diese Beule wahrheitsgemäß aufgeschrieben ist.
Selbstverständlich würden solche Vorfälle notiert. Martina Koller will es sehen. Es steht noch nicht in dem Bericht, aber man trägt es in ihrem Beisein ein.
„Glauben Sie nicht“, sagt die Kindergartenleiterin, „dass Sie mit diesem Verhalten Ihre Situation verbessern.“
Von diesem Tag an notiert sie, wenn Daniel sich zu Hause eine neue Verletzung zugezogen hat. Wenn sie ihn abholt, sieht sie nach, ob im Kindergarten neue dazugekommen sind.
Fast täglich hat er sich auch hier angestoßen, abgeschürft oder ist gefallen. Die Kindergartenverletzungen mehren sich rasant.
Die Leiterin lenkt ein, nimmt ihre Anschuldigungen zurück. Die Tatsache, dass Sven und Julia gesund und unversehrt sind, lässt auch das Jugendamt die Situation jetzt anders betrachten. Aber der Kindergarten nimmt die Gelegenheit auch wahr, um nachzuweisen, dass Daniel in der Einrichtung nicht hinlänglich betreut werden kann. Man einigt sich darauf, ihn noch einmal zur genauen Diagnostik in eine Klinik zu geben.
Als sie ihn nach vier Wochen nach Hause holt, gibt man ihr ein Medikament mit, das sie Daniel bei besonderer Unruhe geben kann.
Vom Gericht bekommt sie Post. Sie darf dem Vater der Kinder das Besuchsrecht nicht länger
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