Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
verwehren.
Im Dezember 2001 sieht sie ihn wieder. Sie treffen sich an der Rheinpromenade. Sven rennt auf ihn zu und umarmt ihn überschwänglich. Julia ist zunächst zurückhaltend. Er hat einen seiner guten Anzüge an und Geschenke für die Kinder dabei. Sie hat Daniel an der Hand, er zerrt und zieht.
Ihr Mann geht in die Hocke und breitet die Arme aus. Daniel läuft auf ihn zu und lässt sich hochheben, so wie er es bei jedem Menschen gemacht hätte. Dann befreit er sich aus der Umarmung und läuft zum Wasser. Sie holt ihn ein, hält ihn fest. Erst jetzt scheint ihr Mann zu begreifen, dass mit seinem Sohn etwas nicht stimmt.
Sie sieht es. Sie sieht, wie sein rechter Mundwinkel nach oben wandert. Sven und Julia packen auf der Bank die Geschenke aus. Er folgt ihr ans Wasser. „Was ist mit ihm?“ Seine Stimme klingt besorgt.
„Er ist behindert“, sagt sie kurz und geht mit dem zerrenden Daniel zurück zur Bank.
„Martina, ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe.“ Er ringt nach Worten, hebt hilflos die Hände. „Ich hätte nicht weggehen sollen, ich weiß. Aber ich hatte getrunken, und du weißt doch … Es war besser zu gehen.“
Sie schüttelt den Kopf. „Du hast vor Gericht behauptet, es wäre nichts passiert.“
Er hebt die Schultern. „Ja, aber doch nur, weil ich mich nicht erinnern konnte. Ich weiß bis heute nicht, was wirklich passiert ist.“
Sven fasst nach seiner Hand. „Papa, kommst du jetzt wieder nach Hause?“ Er hebt ihn hoch. „Aber ja, mein Großer. Ich wollte euch die ganze Zeit sehen, eure Mutter war dagegen.“
Er sagt: „Sieh doch, Martina, die Kinder brauchen doch ihren Vater. Und ich, ich liebe dich doch. Weißt du, wie schrecklich die letzten Monate für mich waren? Ich konnte nicht mehr arbeiten! Die Firma und das Haus sind verkauft. Ich habe alles verloren, Martina.“
Er weint. Die Kinder blicken verunsichert von ihr zu ihm.
„Ich hätte dich nie heiraten dürfen. Weißt du noch, wie ich war, als wir uns kennenlernten? Sieh mich jetzt an, Martina“, stöhnt er unter Tränen. „Meine Liebe zu dir macht mich kaputt.“ Sie schweigt, sagt nicht, dass sie weiß, dass es nie eine eigene Firma und ein eignes Haus gegeben hat.
Sven greift nach seiner Hand, hält sie tröstend an seine Wange. „Mama, warum kann Papa denn nicht bei uns wohnen?“
Als sie sich voneinander trennen, fragt Sven, wann er ihn wiedersehen kann.
„Ich würde dich gerne jeden Tag sehen, Sven. Aber das entscheidet eure Mutter.“
In den nächsten Tagen sprechen die Kinder viel von ihrem Vater, malen ihn in den hellsten Farben. Sie ist erstaunt, mit welcher Konsequenz Sven die Ereignisse in der Dezembernacht verdrängt.
Im Rückblick will sie ehrlich sein.
Sie nahm ihn nicht nur wegen der Kinder auf. Sie redete sich ein, dass ihr Alltag zu zweit vielleicht leichter werden könnte. Sie dachte, wenn er arbeitet, würde sie nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sein. Das Jugendamt wäre sicher milder, wenn sie keine öffentlichen Gelder mehr benötigte. Sie könnten eine ganz normale Familie sein. Wie ihr Sohn fing sie an, ihre Erinnerungen zu sortieren.
Und es war ihre Wohnung! Wenn er wirklich wieder schlagen würde, könnte sie ihn rausschmeißen.
22
Vincent Grube war eine halbe Stunde früher da und verteilte auf dem Tisch im Konferenzraum Papiere. Alles, was es bis zu diesem Zeitpunkt an Ermittlungsergebnissen im Fall „Juwelier Berger“ gab.
Van Oss musste auf den aktuellen Stand gebracht werden, und das Auflisten aller Fakten war auch für ihn eine gute Übung, sich die Ergebnisse noch einmal vor Augen zu führen und zu prüfen, ob er irgendetwas übersehen hatte.
Donnerstag würde Peter Böhm, der Leiter des K11, aus dem Urlaub kommen. Wenn sie den Raub bis dahin in trockenen Tüchern hatten, würde wahrscheinlich auch der Mord aufgeklärt sein. Sie mussten die beiden Komplizen finden. Koller war dilettantisch genug gewesen, diesen Rammbock zu behalten. Lembach hatte jede Menge Fingerabdrücke sichergestellt. Vielleicht war ja der eine oder andere in der Kartei zu finden.
Außerdem war es ziemlich sicher, dass Kollers Patrol das Tatfahrzeug gewesen war. Aber wo hatten die den so schnell umlackiert? War Koller nur der Hiwi gewesen? War er der Schwachpunkt im Plan gewesen, den sie kurzerhand ausgeschaltet hatten? Hatten sie von Anfang an geplant, ihn anschließend zu beseitigen? Aber wieso hatten sie den Wagen stehen lassen? Den Wagen mitsamt der Stahlkonstruktion?
Langsam
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