Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
einen Unfall gehalten hatten. Sie hatten helfen wollen. Und was war jetzt daraus geworden?
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An einem Dienstagnachmittag im Mai zieht er ein. Er hat Kuchen und zwei Koffer dabei. Sie hat eine Tischdecke auf den Küchentisch gelegt und Fliederzweige in die Mitte gestellt. Sven fordert ihn zum Armdrücken heraus. Andreas lässt ihn mehrere Male gewinnen. Julia sitzt auf seinem Schoß.
An diesem Nachmittag kommt ihr alles richtig vor. Ja, ihr Zögern in den vergangenen Wochen erscheint ihr dumm. Daniel läuft um den Tisch herum und macht vor Freude glucksende Geräusche. Er spürt die Harmonie der Stunde. Ab und an bleibt er hinter seinem Vater stehen und klatscht in die Hände. Es ist seine Art, Zuneigung auszudrücken.
Im Kindergarten hat er einen schweren Stand. Täglich muss sie sich anhören, wie schwierig es mit ihm ist und was er im Laufe des Tages angestellt hat. Sie zeigen ihr ein Kind mit tiefen Kratzern an den Armen, eine Puppe ohne Beine, die zerrissene Bluse einer Erzieherin. Er ist fast drei Jahre alt, für sein Alter recht groß und immer noch nicht sauber. Ihn neu zu wickeln wird immer schwieriger, er kann keine Minute stillhalten.
Jetzt würde Andreas das Geld verdienen. Sie würde sich beim Sozialamt und Daniel im Kindergarten abmelden. Er ist überfordert mit all den anderen Kindern. Er braucht einfach nur eine ruhige Umgebung, den vertrauten Rahmen der Wohnung und Menschen, die mit seinen Eigenarten umgehen können.
Der junge Sommer 2002 – so scheint es ihr – hat nur helle Tage. Das Stückchen Himmel, das sie vom Küchenfenster aus sehen kann, ist jeden Morgen strahlend blau.
Noch einmal hat sie ein Gespräch mit dem Jugendamt. Andreas begleitet sie in einem dunkelblauen Zweireiher. Er geht auf die Anwesenden zu, reicht ihnen die Hand, stellt sich vor. Mit viel Verständnis nimmt er die anwesende Kindergartenleiterin für sich ein. Alle Beteiligten einigen sich darauf, dass Daniel mit der Unruhe des Kindergartens überfordert ist und er – in Anbetracht der neuen Situation – besser zu Hause aufgehoben sei. Das Jugendamt würde regelmäßige Hausbesuche machen, im Dialog bleiben.
Andreas gibt sich Mühe, macht schwarz bezahlte Überstunden. Er sagt: „Aus dem Hinterhofloch müssen wir raus. Meine Kinder sollen hier nicht groß werden.“
Sie lieben sich bedächtig. Er ist zärtlich wie damals, als er um sie geworben hat. Ein Neuanfang, das spürt sie genau.
Das Leben wird leichter, selbst der Hinterhof scheint ihr in jenem Frühsommer schön. Sie bepflanzt Blumenkästen, er besorgt eine Gartenbank, einen Tisch und ein paar Stühle. Für den Durchgang zur Fußgängerzone bringt er einen ausrangierten, drei Meter langen Jägerzaun mit. Den hängen sie über zwei Metallhaken vor dem Torbogen, damit Daniel auch alleine im Hof spielen kann. Zäune respektiert er. Auch aus seinem Gitterbettchen steigt er nie allein, obwohl er das könnte. Es ist, als lebe er in einer Welt mit eigenen geheimnisvollen Regeln. Eine Zeitlang geht sie noch mit ihm zur Krankengymnastik und zum Logopäden. Aber Daniel ist nicht in der Lage mitzuarbeiten. Die Therapeuten sind frustriert, und so schlafen auch diese Termine bald ein.
Frau Schenk vom Jugendamt kommt in dieser Zeit einmal im Monat vorbei. Martina scheut ihre Besuche nicht mehr. Sie ist auch die Erste, der sie erzählt, dass sie wieder ein Kind erwartet.
Es ist ein lauer Abend an einem Wochenende. Mittags ist er mit Sven und Julia Eis essen gegangen, und sie hat mit Daniel Würstchen eingekauft und Salate vorbereitet. Abends grillen sie im Hof. Einige der Nachbarn gesellen sich dazu, bringen Essen und Getränke mit. Herr Aslan von gegenüber schenkt Raki aus. Auch Andreas trinkt davon. Nach dem zweiten lehnt er dankend ab. Die Sorge, mit der sie ihn das erste Glas hat trinken sehen, ist augenblicklich verflogen. Andreas trinkt drei Bier, wie er es häufig abends tut. Es wird viel gelacht und die Kinder gehen spät zu Bett. Während sie abwäscht, erzählt sie ihm, dass sie im dritten Monat ist. Er sitzt am Küchentisch. Sein Schweigen bohrt sich in ihren Rücken. Nur das dumpfe Klappern der Teller unter Wasser ist zu hören. Als er aufsteht, hält sie den Atem an. Wartet! Erwartet den ersten Schlag, mit dem sie endlich begreifen wird, dass sie die letzten Monate nur geträumt hat.
Wortlos geht er hinaus.
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Als Linda das Krankenzimmer von Luca Puntino betrat, hatte er bereits Besuch. Alle Stühle waren besetzt. Sie öffnete ihren Wollblazer und
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