Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
Bettwäsche. Die Augen waren blau umrandet, als habe er sich geprügelt. Schläuche gingen von seinem rechten Arm und vom Kopf ab. An den umstehenden Monitoren malten sich wie von Geisterhand Linien. Digitale Ziffern zählten vor und zurück.
Der Arzt war jung und müde. Er klemmte ein Röntgenbild unter eine Leiste, schaltete das weiße Licht in dem Kasten dahinter an. „Wir haben operiert.“
Roberta knetete ein nasses Tempotaschentuch in den Händen. „Wird er wieder gesund? Ich meine, am Kopf, das ist doch gefährlich.“ Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen.
„Das kann man jetzt noch nicht sagen. Das kommt auf den weiteren Verlauf an.“ Er lächelte sie aufmunternd an. „Bis jetzt ist soweit alles ganz gut verlaufen. Das künstliche Koma dient der Ruhigstellung und sorgt dafür, dass Ihr Sohn keine Schmerzen hat.“
Ihr Sohn! Vittore setzte an, wollte den Irrtum aufklären. Dann legte er den Arm um Robertas Schultern. Wozu? Irgendwie stimmte es ja.
In der Brusttasche des Arztkittels begann es zu piepen. Ein kleines, rotes Licht blinkte durch den weißen Stoff. Er war schon auf dem Weg in Richtung Tür.
„Wir können jetzt nur abwarten. In zwei bis drei Tagen wissen wir Genaueres.“ Vittore und Roberta folgten ihm auf den Flur. Der Arzt lief mit eiligen Schritten davon.
Gut eine Stunde blieben sie noch schweigend an Lucas Bett sitzen. Gut eine Stunde brauchte Vittore, bis sein Entschluss feststand. Er kannte den Mann, der Luca das angetan hatte. Er wusste nicht woher, aber er war ihm schon einmal begegnet. Er würde ihn finden.
Um kurz vor drei Uhr konnte er Roberta endlich überreden nach Hause zu fahren. Sie mussten Luigi und Despina anrufen und ihnen sagen, was ihrem Sohn zugestoßen war. Davor fürchtete er sich. Er fühlte sich schuldig. Er hatte die Absicht des Fahrers zu spät erkannt. Er hatte den breiten Rückspiegel übersehen. Er hatte zu spät reagiert.
Aber er würde das in Ordnung bringen.
5
Vincent Grube saß in seinem Büro, das er sich vor gut sechs Jahren hatte neu erkämpfen müssen. Man nannte ihn auch heute noch hinter vorgehaltener Hand: der Spieler.
Damals, 1998, war er am Ende gewesen. Er hatte alles verzockt, sein Haus, sein Erbe und, wie er sich erst sehr viel später hatte eingestehen können, auch seine Familie. Seine Frau Christa hatte ihn verlassen, und im Präsidium hatte man ihn vor die Wahl gestellt, entweder eine Therapie oder den Abschied. Sechs Monate war er in einer Klinik im Taunus gewesen und erst dort hatte er sich seine Spielsucht eingestehen können. Die Zeit danach war nicht leicht gewesen, aber vor drei Jahren hatte er sich mit Christa ausgesöhnt. Er besaß zwar immer noch eine eigene Wohnung, aber die meisten Abende verbrachte er bei ihr. Sie fuhren sogar zusammen in Urlaub. Nur dass er bei ihr einzog, dagegen sträubte sie sich. Seit damals hatte er kein Kartenspiel mehr angerührt, aber die Art, wie ein Spieler zu denken und manchmal auch noch zu sprechen, war geblieben.
Er hatte den ganzen Vormittag herumtelefoniert und sich die Aufnahmen der Überwachungskamera aus dem Juweliergeschäft angesehen. Wolters vom BKA hatte er erst gegen zehn Uhr erreicht. „Bei uns laufen alle Informationen zusammen“ und „nein, in die Ermittlungen vor Ort mischen wir uns nicht ein. Wir wollen nur die Ergebnisse!“
Gepriesen sei der Herr, hatte Grube innerlich gejubelt. Er würde seine Berichte schicken und „aus die Maus“. Postwendend waren eine Stunde später alle Ermittlungsergebnisse aus den anderen Städten per E-Mail eingegangen. Wobei … von Ergebnissen konnte da keine Rede sein. Drei der Einbrüche waren von Überwachungskameras in den Geschäften aufgenommen worden. Die Videoaufzeichnungen waren noch nicht dabei. Auch bei Berger hatte es eine Kamera gegeben. Das Band hatte er sich schon zehn Mal angesehen. Die ersten Bilder, als der Wagen durch die Scheibe brach und auf dem roten Teppich parkte, schon mindestens zwanzig Mal. Die Kameraführung ließ natürlich zu wünschen übrig, aber ansonsten wären die Szenen in jedem Actionstreifen gut aufgehoben. Der Film war nicht von besonders guter Qualität. Auf dem schwarzen Wagen gab es rote Lichtreflexe. Dieser Wagen! Da musste es doch Hinweise geben. Mit so einem martialischen Vieh konnte man doch nicht ungesehen verschwinden. Es war noch vor Mitternacht passiert. Den Hasenberg rauf und raus aus der Stadt. Entweder Richtung Holland oder über den Ring in Richtung Emmerich auf die Autobahn.
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