Mitternacht
Abenteuergeschichten waren voll von kühnen jungen Heldinnen, die wesentlich längere Verfolgungen aushaken konnten - und bittere Kälte und andere Härten als diese, und sie hatten den Verstand immer beisammen und konnten schnelle Entscheidungen treffen - und meistens die richtigen.
Es spornte Chrissie an, sich mit einer Heldin von Andre Norton zu vergleichen, und sie trat entschlossen ins Bachbett hinunter. Sie überquerte drei Meter schlammige Erde, die die schweren Regenfälle des letzten Frühlings angeschwemmt hatten, und versuchte, über den schmalen, purpurnen Wasserlauf zu springen. Sie verfehlte das gegenüberliegende Ufer nur um Zentimeter und machte ihre Tennisschuhe naß. Sie ging dennoch unverdrossen weiter durch lehmigen Boden, der in Klumpen an ihren nassen Schuhen haften blieb, erklomm das gegenüberliegende Ufer des Bachbetts, wo sie sich weder nach Westen noch nach Osten wandte, sondern nach Süden, den gegenüberliegenden Hügelkamm hinauf und zum nächsten Ausläufer des Waldes.
Sie kam jetzt in neues Gelände am äußersten Abschnitt des Waldes, der jahrelang ihr Spielplatz gewesen war, aber sie hatte keine Angst davor, sich zu verirren. Sie konnte Westen und Osten anhand der dünnen Nebelschwaden und der Position des Mondes unterscheiden. Mit diesen Hilfsmitteln konnte sie einen zuverlässigen Südkurs einschlagen. Sie glaubte, daß sie innerhalb einer Meile zu einer Gruppe von Häusern und der ausgedehnten Anlage von New Wave Mikrotechnologie kommen würde, die zwischen den Stallungen der Fosters und der Stadt Moonlight Cove lag. Dort könnte sie Hilfe finden.
Aber dann würden natürlich erst ihre wahren Probleme anfangen. Sie mußte jemanden davon erzählen, daß ihre Eltern nicht mehr ihre Eltern waren, daß sie sich verändert hatten, von einem Geist besessen oder irgendwie verein nahmt worden waren... von einer unbekannten Macht. Und daß sie sie selbst in eine von ihnen verwandeln wollten. Klar, dachte sie. Viel Glück.
Sie war klug, redegewandt, verantwortungsbewußt, aber sie war nur ein elfjähriges Mädchen. Es dürfte ihr schwerfallen, jemanden davon zu überzeugen, ihr zu glauben. Diesbezüglich hatte sie keine Illusionen. Sie würden zuhören und nicken und lächeln, und dann würden sie ihre Eltern anru fen, und ihre Eltern würden sich glaubwürdiger anhören als sie selbst...
Aber ich muß es versuchen, sagte sie zu sich, während sie die südliche Wand des Tals zu erklimmen begann. Wenn ich nicht versuche, jemanden zu überzeugen, was kann ich sonst tun? Mich einfach aufgeben? Auf gar keinen Fall. Ein paar hundert Meter hinter ihr kreischte etwas hoch oben am Hang, den sie gerade heruntergekommen war. Es war kein menschlicher Schrei, aber auch nicht der eines Tieres. Dem ersten schrillen Schrei antwortete ein zweiter, ein dritter und jeder Schrei war eindeutig von einem anderen Wesen, denn jeder wurde mit einer deutlich unterscheidbaren Stimme ausgestoßen.
Chrissie blieb auf dem steilen Hügel unter dem Baldachin eines süßlich riechenden Busches stehen und hielt sich mit der Hand an einer aufgesprungenen Birkenrinde fest. Sie drehte sich herum und lauschte, wie ihre Verfolger gleichzeitig zu heulen anfingen, ein hallender Schrei, der an das Bellen von Koyoten erinnerte...aber seltsamer, furchteinflößender war. Das Geräusch war so kalt, daß es ihr durch Mark und Bein fuhr und sich wie eine Nadel in ihre Knochen bohrte.
Das Bellen war wahrscheinlich Ausdruck ihrer Zuversicht: Sie waren sicher, daß sie sie erwischen würden, daher mußten sie nicht mehr schweigen.
»Was seid ihr?« flüsterte sie.
Sie vermutete, daß sie in der Dunkelheit so gut wie Katzen sehen könnten.
Konnten sie sie auch wittern, wie Hunde?
Ihr Herz schlug beinahe schmerzhaft in der Brust.
Sie fühlte sich verwundbar und allein, als sie den heulenden Jägern den Rücken zudrehte und den Pfad zum südlichen Rand des Tals emporkletterte.
9
Am Fuß der Ocean Avenue schritt Tessa Lockland über den verlassenen Parkplatz zum öffentlichen Strand. Die nächtliche Brise vom Pazifik kam gerade auf, sanft aber kühl, und sie war froh, daß sie Hosen, einen Wollpullover und die Le derjacke anhatte.
Sie schritt über den weichen Sand zu den Schatten außerhalb des Lichtkreises der letzten Straßenlaterne, an einer am Strand wachsenden hohen Zypresse vorüber, die der Wind vom Meer so radikal geformt hatte, daß sie sie an eine Skulptur von Erte erinnerte, nur gekrümmte Linien und geschmolzene
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