Mitternacht
bemerkenswert. Sie waren graublau mit dunkelblauen Linien. Frauen hatten ihm oft gesagt, er hätte die schönsten Augen, die sie je gesehen hätten. Frü her war ihm einmal etwas daran gelegen gewesen, was Frauen zu ihm gesagt hatten.
Er zuckte die Achseln und vergewisserte sich, ob das Halfter richtig saß.
Er rechnete nicht damit, daß er die Waffe heute abend brauchen würde. Er hatte noch nicht angefangen herumzu schnüffeln und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; und da er bisher noch niemandem auf die Füße getreten war, würde auch niemand zurückschlagen.
Dennoch wollte er den Revolver von jetzt an tragen. Er konnte ihn nicht im Motelzimmer oder im Mietwagen lassen; wenn jemand eine Durchsuchung vornähme und die Waffe fände, würde seine Tarnung auffliegen. Kein Börsenmakler in mittleren Jahren, der nach einem Küstenstädtchen suchte, wo er sich vom Streß zurückziehen konnte, würde einen schallgedämpften 38er dieser Marke und dieses Modells bei sich haben. Es war die Waffe eines Bullen. Er steckte den Zimmerschlüssel ein und ging zum Essen.
7
Nachdem sie sich eingetragen hatte, stand Tessa Lockland lange Zeit am Fenster ihres Zimmers im Cove Lodge, ohne das Licht einzuschalten. Sie sah auf den weiten, dunklen Pazifik hinaus und den Strand entlang, an dem ihre Schwester Janice angeblich eine gräßliche Mission der Selbstvernichtung begonnen hatte.
Die offizielle Geschichte war, daß Janice eines Nachts in einem Zustand akuter Depression alleine zum Strand gegangen war. Sie hatte eine Uberdosis Valium genommen und die Tabletten mit mehreren Schlucken aus einer Dose Diet Coke hinuntergespült. Dann hatte sie die Kleidung ausgezo gen und war in Richtung Japan losgeschwommen. Sie hatte aufgrund des Schlafmittels bald das Bewußtsein verloren und war in die kalte Umarmung des Meeres hinabgesunken und ertrunken.
»Scheiße«, sagte Tessa leise, als spräche sie zu ihrem eigenen, vagen Spiegelbild in dem kühlen Glas.
Janice Lockland Capshaw war eine Person voller Hoffnung und unversiegbarem Optimismus gewesen – eine Eigenschaft, die bei Angehörigen des Lockland-Clans so verbreitet war, daß sie genetisch bedingt sein mußte. Janice hatte in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal in der Ecke gesessen und hatte sich selbst bemitleidet; hätte sie es versucht, dann hätte sie innerhalb von Sekunden über die Dummheit von Selbstmitleid gelacht und wäre aufgestanden, um ins Kino oder zu einem psychotherapeutischen Dauerlauf zu gehen. Nicht einmal nach Richards Tod hatte Janice ihren Kummer zu Depressionen wuchern lassen, obwohl sie ihn sehr geliebt hatte.
Was also konnte den unvermittelten emotionalen Absturz verursacht haben? Wenn sie an die Geschichte dachte, die die Polizei ihr weismachen wollte, wurde Tessa zu Sarkasmus getrieben. Vielleicht war Janice in ein Restaurant gegangen und hatte ein schlechtes Essen vorgesetzt bekommen, und dieses Erlebnis hatte sie so sehr niedergeschmettert, daß Selbstmord der einzig mögliche Ausweg war. Klar. Oder vielleicht war ihr Fernseher kaputtgegangen und sie hatte deshalb ihre Lieblingssendung verpaßt, was sie in unerträgliche Verzweiflung gestürzt hatte. Gewiß. Diese Szenarien waren schätzungsweise so plausibel wie der Unsinn, den ihr der Gerichtsmediziner und die Polizei von Moonlight Cove in ihren Berichten präsentiert hatten.
Selbstmord.
»Scheiße«, wiederholte Tessa.
Sie konnte vom Fenster ihres Motelzimmers nur einen
kleinen Strandabschnitt sehen, wo gischtende Wellen brandeten. Der Sand wurde vage vom winterlichen Licht des gerade aufgegangenen Viertelmondes erhellt, ein blasses Band, das sich südwestlich und nordwestlich um die Bucht zog.
Tessa verspürte den Wunsch, an dem Strand zu stehen, wo ihre Schwester angeblich den mitternächtlichen Schwimmausflug zum Friedhof angefangen hatte, derselbe Strand, an den die Flut Tage später ihren aufgedunsenen, verstümmelten Leichnam geschwemmt hatte. Sie wandte sich vom Fenster ab und schaltete die Nachttischlampe ein. Sie nahm eine braune Lederjacke vom Kleiderbügel im Schrank, zog sie an, hängte die Handtasche über die Schulter, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Sie war – auf irrationale Weise – sicher, daß sie durch erstaunliche Einsicht oder einen Funken der Intuition Hinweise auf den wahren Sachverhalt finden würde, indem sie nur an den Strand ginge und an der Stelle stünde, wo Janice angeblich gestanden hatte.
8
Als der wie gehämmertes Silber
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