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Mitternacht

Mitternacht

Titel: Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Augen, dann ein ander an. In den Blicken, die sie miteinander wechselten, sah Loman die dunkle Erkenntnis, daß sie alle potentielle Regressive waren, daß auch sie den Ruf nach dem unbelasteten primitiven Stadium verspürten. Das war ein Wissen, das keiner auszusprechen wagte, denn das hätte das Eingeständnis bedeutet, daß Moonhawk ein Projekt voller Fehler war, das sie alle zum Untergang verurteilte.

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    Mike Peyser hörte das Freizeichen und mühte sich mit den Knöpfen ab, die für seine langen, zinkenähnlichen Finger zu klein und zu dicht nebeneinander lagen. Plötzlich wurde ihm klar, daß er Shaddack nicht anrufen konnte, daß er nicht wagen würde, Shaddack anzurufen, obwohl sie einander schon seit über zwanzig Jahren kannten, seit sie an der Stanfort Universität studiert hatten, er konnte Shaddack nicht anrufen, obwohl Shaddack ihn zu dem gemacht hatte, was er war, weil Shaddack ihn jetzt als Außenseiter betrachten würde, als Regressiven und Shaddack würde ihn in einem Labor einsperren und ihn mit der Zärtlichkeit behandeln, die der Vivisektionist einer weißen Ratte vorbehielt, oder aber er würde ihn vernichten, weil er eine Gefahr für die stattfindende Verwandlung von Moonlight Cove war. Peyser kreischte vor Frustration. Er riß das Telefon aus der Wand und warf es durchs Zimmer, wo es den Ankleidespie gel traf und zerschmetterte.
    Seine plötzliche Erkenntnis, daß Shaddack mehr ein mächtiger Gegner als ein Freund und Mentor war, war der letzte völlig klare und rationelle Gedanke, den Peyser eine ganze Weile hatte. Seine Angst war eine Falltür, die sich unter ihm auftat und ins Dunkel des vorzeitlichen Verstandes fallenließ, den er des Vergnügens einer nächtlichen Jagd wegen freigesetzt hatte. Er ging hin und her durchs Haus, manchmal hektisch, manchmal verstohlen schleichend, aber ohne zu wissen, warum er abwechselnd aufgeregt, deprimiert oder von verzehrenden Bedürfnissen erfüllt war und mehr von seinen Gefühlen als von seinem Verstand geleitet war.
    Er erleichterte sich in einer Ecke das Wohnzimmers, schnupperte an seinem eigenen Urin und ging dann in die Küche, um noch mehr Eßbares zu suchen. Hin und wieder klärte sich sein Denken, und er versuchte, seinen Körper in seine zivilisiertere Gestalt zurückzurufen, aber wenn seine Zellen dem Willen nicht gehorchten, versank er wieder im Dunkel tierischer Gedanken. Er war einige Male klar genug, die Ironie zu erkennen, daß er von einem Prozeß, der ihn zum Übermenschen hätte machen sollen, zum Wilden gemacht worden war; aber diese Richtung seiner Gedanken war so finster, daß er sie nicht ertragen konnte, wodurch das neuerliche Absinken in den wilden Bewußtseinszustand fast willkommen war.
    Sowohl im Griff des primitiven Bewußtseins, wie auch dann, wenn sich die Wolken von seinem Verstand zurückzogen, dachte er wiederholt an den Jungen, Eddie Valdoski, den Jungen, den zarten Jungen, und er erregte sich an der Erinnerung an Blut, süßes Blut, frisches Blut, das in der kalten Nachtluft dampfte.

42
    Obwohl sie körperlich und geistig erschöpft war, konnte Chrissie nicht schlafen. Sie hing zwischen den Jutesäcken auf Mr. Eulanes Lieferwagen am dünnen Seil des Wachseins und wollte nichts mehr, als loslassen und in Bewußtlosigkeit fallen.
    Sie fühlte sich unvollständig, als wäre etwas unterlassen worden - und plötzlich weinte sie. Vergrub das Gesicht in der wohlriechenden und leicht kratzenden Jute und weinte, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan hatte, so herzzerreißend wie ein Baby. Sie weinte um ihre Mutter und ihren Va ter, die sie vielleicht für immer verloren hatte, und die nicht sauber vom Tod geholt worden waren, sondern von etwas Verderbtem, Schmutzigem, Unmenschlichem, Satanischem. Sie weinte um die Jugend, die sie hätte haben können - Pferde und Wiesen am Meer und Bücher, die sie am Strand lesen konnte - und die wahrscheinlich für immer dahin war. Sie weinte auch über einen Verlust, den sie verspürte, aber nicht bezeichnen konnte, doch sie vermutete, es wäre Unschuld oder vielleicht der Glaube, daß das Gute über das Böse triumphierte.
    Keine der Heldinnen aus Büchern, die sie kannte, hätte so unbeherrscht geschluchzt, und Chrissie schämte sich ihrer Tränenflut. Aber weinen war ebenso menschlich wie irren, und vielleicht mußte sie sich zum Teil wenigstens beweisen, daß sie in keine Saat des Bösen gepflanzt worden war, wie sie in ihren Eltern gekeimt und Wurzeln entwickelt hatte. Wenn sie

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