Mitternacht
oder sechzig. Nur vier. Was glauben Sie, wer sind all die anderen, die Ihrer Meinung nach da draußen sind?«
Loman Watkins betrachtete den Nebel, der sich in ständig wechselnden Mustern gegen die Scheiben des Turms preßte. »Sir, ich fürchte, es ist nicht leicht. Ich meine... denken Sie darüber nach. Wenn der Staat oder die Bundesbehörden herausfinden, was Sie getan haben, wenn sie begreifen könnten, was Sie getan haben, und es wirklich glauben, und wenn sie uns dann daran hindern wollten, die anderen außerhalb von Moonlight Cove zu verwandeln, dann würde es ihnen verflucht schwerfallen, uns aufzuhalten, oder nicht? Schließlich können wir Verwandelten... wir halten uns unerkannt unter normalen Menschen auf. Wir scheinen wie sie zu sein, unverwandelt, kein Unterschied.«
»Und?«
»Nun... das ist genau das Problem, das wir mit den Regressiven haben. Sie sind Neue Menschen wie wir, aber das, was sie von uns unterscheidet, die Verderbtheit im Inneren, ist unmöglich zu sehen; sie sind ebenso ununterscheidbar von uns wie wir von den unverwandelten Alten Menschen.«
Shaddacks eisenharte Erektion war erschlafft. Watkins' Negativismus erfüllte ihn mit Ungeduld, er stand vom Ses sel auf und ging zum nächsten der großen Fenster. Er steckte die Hände in die Taschen seines Sweatshirts und betrachtete die vage Spiegelung seines langen, wölfischen Gesichts, das in seiner Durchsichtigkeit geisterhaft wirkte, im Fenster. Er sah sich selbst in die Augen, dann hastig an dem Spiegelbild vorbei in die Dunkelheit hinaus, wo duftender Wind vom Meer den Webstuhl der Nacht bediente, um ein zerbrechliches Tuch aus Nebel zu wirken. Er kehrte Watkins den Rücken zu, weil er nicht wollte, daß der Mann sah, wie besorgt er war, und er mied den gläsernen Blick seiner eigenen Augen, weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, daß seine Besorgtheit von Adern der Angst marmoriert war.
45
Er bestand darauf, die Stühle umzustellen, damit man sie von der Straße aus nicht so leicht sehen konnte. Tessa war argwöhnisch und wollte nicht neben ihm sitzen. Er sagte, daß er geheim arbeitete und daher keinen FBI-Ausweis bei sich hatte, aber er zeigte ihr alles andere in der Brieftasche: Führerschein, Kreditkarten, Bibliotheksausweis, Videoleihkarte, Fotos seines Sohnes und seiner verstorbenen Frau, einen Gutschein für ein kostenloses Schokoladenplätzchen in jedem Mrs. Fields-Geschäft, ein Bild von Goldie Hawn, das er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Würde ein mörderischer Wahnsinniger einen Keksgutschein mit sich herumschleppen? Nach einer Weile, nachdem er sie ihre Geschichte vom Massaker im Cove Lodge wiederholt hatte erzählen lassen und dabei unablässig nach Einzelheiten gefragt hatte, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie ihm alles erzählt hatte und er alles begriff, fing sie an, ihm zu vertrauen. Wenn er nur so getan hätte, als wäre er ein Agent, wäre seine Schauspielerei nicht so weit gegangen oder ausführlich gewesen.
»Sie haben aber nicht gesehen, wie jemand ermordet wurde?«
»Sie wurden ermordet«, beharrte sie. »Wenn Sie ihre Schreie gehört hätten, würden Sie daran keinen Zweifel haben. Ich stand schon in einem Mob in Nordirland und habe mit angesehen, wie sie Menschen zu Tode geprügelt haben. Ich habe einmal in einem Stahlwerk gedreht, als geschmolzenes Metall davonspritzte und auf Gesichter und Körper der Arbeiter geriet. Ich war bei den Meskitoindianern im Dschungel von Zentralamerika, als sie mit Bomben angegriffen wurden - Millionen winzige Stahltrümmer, die Körper von Tausenden winziger Nadeln durchbohrt -, und ich habe ihre Schreie gehört. Ich weiß, wie sich ein Todesschrei anhört. Und das waren die schlimmsten, die ich jemals gehört habe.«
Er sah sie lange an, dann sagte er: »Sie sehen... aus...«
»Niedlich?«
»Ja.«
»Und deshalb unschuldig? Deshalb naiv?«
»Ja.«
»Mein Fluch.«
»Nicht manchmal auch ein Vorteil?«
»Manchmal«, gab sie zu. »Hören Sie, Sie wissen etwas, also verraten Sie mir eines: Was geht in dieser Stadt vor sich?«
»Etwas geschieht mit den Menschen hier.«
»Was?«
»Das weiß ich nicht. Zunächst einmal interessieren sie sich nicht mehr für Filme. Das Kino mußte schließen und sie interessieren sich nicht mehr für Luxusgüter, Geschenkartikel, solche Sachen, denn auch diese Geschäfte mußten alle schließen. Sie finden nichts mehr an Champagner...« Er lächelte dünn. »Sämtliche Kneipen müssen dichtmachen. Sie
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