Mitternachtserwachen
nach dem anderen in zwei qualvollen Stunden entfernte.
Das Tor war abgeschlossen, und Lior knackte das Schloss innerhalb von Sekunden. Kendrick warf ihm eine Schaufel zu, verschloss das Tor, und sie machten sich auf die Suche nach Ralph McBride. Viele der alten Grabsteine waren umgefallen. Lior spürte die verblassten Erinnerungen der Toten, die nicht alle ihren Frieden gefunden hatten. Die meisten Ruhelosen verdienten ihr Schicksal, aber einige wenige …
Sie wurden von ihrer Bestimmung in den Arsch getreten, immer und immer wieder, bis ans Ende der Zeit. Ihm lief ein Frösteln den Rücken entlang.
Sie fanden die Grabstätte genau dort, wo Nosferat es ihnen auf dem Plan gezeigt hatte. Lior ging in die Hocke und räumte zuerst vorsichtig das Pflanzgefäß mit dem Oleander von dem Grab. Er spürte deutlich die Anwesenheit von Aileen, ihre Trauer, Verzweiflung und Wut, die unzähligen Stunden, die sie an diesem Ort verbracht hatte. Auch ihre Resignation, das Leugnen fühlte er, all ihre Emotionen prasselten auf ihn ein, bis er sie nicht mehr von den eigenen zu unterscheiden wusste. Woher hatte Nosferat gewusst, dass sie für ihn bestimmt war? Es musste einfach so sein, denn anders konnte er sich diese Vertrautheit zu ihr nicht erklären, dieses Verlangen, jede Sekunde mit ihr zu verbringen.
Der Mond verschwand hinter den Wolken, und seine Augen stellten sich auf die Dunkelheit ein.
IN LOVING MEMORY OF
RALPH MCBRIDE
SOULMATE AND HUSBAND
Das Datum seines Todes war verblasst, als wäre die Inschrift auf dem polierten Grabstein bereits uralt. Er berührte sie mit den Fingerspitzen, schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Er fühlte nichts auf der Oberfläche. Kendrick errichtete eine Schutzglyphe, die nur einem flüchtigen Blick standhielt, doch eine stärkere durften sie nicht beschwören, weil sie sonst die Aufmerksamkeit der Andersartigen in der Umgebung auf sich gezogen hätten. Lior hatte wirklich keine Lust, sich mit niederen Dämonen oder wild gewordenen Wertieren herumzuärgern. Wenn die Menschen wüssten, dass es Wereichhörnchen gab, die in den Bäumen lauerten, würden sie die Hörnchen nicht so großzügig mit Nüssen füttern.
Kendrick setzte die Schaufel an, und Lior tat es ihm gleich. „Ich kann mir nicht helfen, doch ich habe ein Scheißgefühl, wie damals, als ich erstmals das Urchaid gespürt habe“, sagte er in seinem düstersten Tonfall.
Lior verstand seinen Freund nur zu gut. Auch er fühlte eine Präsenz auf dem Friedhof, wie einen Windhauch, den man kaum wahrnahm, aber der dennoch allgegenwärtig war. Das Böse hatte seine Spuren auf dem Bennochy Cemetery hinterlassen, und sie waren gerade dabei, etwas davon auszugraben.
Eine halbe Stunde später lief ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. Lior hielt inne und wischte sich über die Stirn. Noch ein paar Schaufeln Erde trennten sie von dem Sarg. Schweigend erledigten sie den Rest. Lior legte seine Handfläche auf das Holz und zog sie mit einem Schmerzensschrei zurück. Der Deckel war kochend heiß, aber nur, wenn man ihn berührte.
Hexenmagie!
Ehe die Warnung seine Lippen verließ, flog der Sargdeckel auf.
Morvens Augen glühten, und sie wirkte, als sei sie bereit, es mit Gott und Satan gleichzeitig aufzunehmen.
„Sie wollen auf den Friedhof. All meine Instinkte warnen mich, dass sie unsere Hilfe brauchen. Ich bin so aufgewühlt.“ Morven biss einen Happen von dem Sandwich ab und kaute mit vollen Backen. Aileen tat es ihr gleich, erlaubte sich sogar für einen Moment, den würzigen Käse, den knackigen Salat und die Mayonnaise zu genießen.
Auf den Friedhof! Sie planten, das Grab von Ralph zu öffnen! Kein Wunder, dass Lior sie nicht hatte dabei haben wollen. Wollte sie wirklich wissen, was in dem Sarg lag? Ralph hatte mit unheilvollen Mächten herumgespielt, da stand ihm eine Totenruhe nicht zu.
Die Sorge um die Söldner überwog ihre Bedenken, sie hatte keine Zeit, um sich anzustellen. Ihr gefiel die Rolle, auf Lior zu warten, immer weniger, während er sich in Gefahr begab. Das Unruhegefühl in ihr nahm sekündlich zu, und sie musste unbedingt etwas dagegen tun.
Sie schlüpfte in Jeans und ein langärmliges T-Shirt, die Morven ihr reichte. Das Material schmiegte sich seidenweich an ihre Haut, pulsierend und warm.
„Der Stoff schützt dich vor Kälte, Regen und schwacher feindlicher Magie“, klärte Morven sie auf. Dann gab sie ihr eine Lederjacke, die wie angegossen passte.
Morven grinste breit.
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