Mitternachtserwachen
Wachen?“
„Überflüssig. Die Schutzglyphen sind undurchdringlich. Nur die Lugus können sie durchbrechen.“ Sie grinste breit. „Und ich. Jedoch wissen sie das nicht.“
Wie zwei Verbrecher schlichen sie zur Hintertür, und Aileen atmete tief durch, weil sie insgeheim damit gerechnet hatte, dass Nosferat aus dem Nichts auftauchte. Sie bezweifelte, dass er Morven auch nur eine Sekunde geglaubt hätte.
Der Vollmond tauchte die Insel in ein geheimnisvolles kühles Licht. Aileen versuchte, an den Schatten vorbeizusehen, aber sie schaffte es nicht, das verbliebene Dunkel zu durchdringen. Morven musste Augen wie eine Eule haben, denn sie fand auf Anhieb den überwucherten Pfad, der sich zwischen den Bäumen befand. Überall standen Nosferats Statuen, und sie rief sich in Erinnerung, dass Lior sie für unbedenklich erklärt hatte. Doch mehr als einmal beschlich sie das Gefühl, sie würden sie anstarren. Besonders verstörend war es, als sie an zwei Gargoyles vorbeiliefen. Der Kleinere hatte ein süßes Gesicht, niedliche Flügel und Hörnchen.
Sie blieb stehen, legte die Hand auf die Brust der steinernen Kreatur, schüttelte über sich selbst den Kopf, da der Stein kalt war, solide, und sie auch keinen Herzschlag fühlte.
Der Weg schlängelte sich über die Insel. Morven bog mehrere Male an Abzweigungen ab, zögerte dabei nicht einmal.
Sie erreichten eine Ansammlung von Findlingen, die einen Halbkreis bildeten und fast vollständig mit Moos überwuchert waren. Kleine Blüten schimmerten wie Perlen. Was für ein verwunschener Ort! Aileen würde sich nicht wundern, wenn ein Einhorn aus der Nacht auftauchte, um im Mondlicht zu baden.
Ob Einhörner existierten?
Morven lief zu der Trauerweide, die hinter den Gesteinsbrocken stand. Der gewaltige Stamm war ein Zeugnis ihres Alters, und die Äste bildeten einen schützenden Schirm über dem Halbkreis.
Morven ging in die Hocke und beseitigte mit den Händen den Blätterteppich, bis sie vier kleine Steine freilegte.
Das sollte ein Portal sein? Verblichene Runen zierten die Oberflächen. Morven schloss ihre Augen und murmelte etwas in einer Sprache, die Aileen in letzter Zeit öfters gehört hatte. Die Symbole erwachten zum Leben, und ein silberner Schimmer stieg von ihnen auf. Ehe Aileen Gelegenheit für Bedenken bekam, packte die Armanach sie mit einem unglaublich kräftigen Griff an den Handgelenken. Der glitzernde Strudel riss sie fort, und als sie die Lider öffnete, lagen sie zwischen einer Reihe Grabsteinen. Morven verzog das Gesicht, drehte sich zur Seite und würgte ihr Abendessen hervor.
Sie fasste in die Tasche ihrer Lederjacke. „Kaugummi?“, fragte sie, als wäre nichts passiert.
Aileen zog einen Streifen aus der Verpackung, und ein rasender Schmerz erfasste ihre Stirn. Morven packte sie, und sie beide gingen erneut zu Boden, als Aileen das Gleichgewicht verlor.
„Willkommen, Marbhadair“, flüsterte Morven.
Das Zeichen auf Aileens Stirn strahlte für einen Sekundenbruchteil so hell, als hätte sie eine Stirnlampe umgebunden. Das Brennen sank auf ein erträgliches Maß, zurück blieb ein eigenartiges Gefühl von Stärke, als seien ihre Knochen und Muskeln gewachsen.
Morven rappelte sich auf und zog Aileen auf die Füße. Gott, sie musste jeden Tag Gewichte stemmen, anders konnte sich Aileen diese Kraft nicht erklären, die in dem kuscheligen weiblichen Körper steckte.
Mit einem Schaudern erfasste sie, dass sie auf dem Bennochy Cemetery standen, nahe des Lodge Houses, dessen Steinfassade sie erspähte.
Morven erstarrte neben ihr genau in dem Moment, als Aileen eine böse Präsenz spürte, die gleich einem glühend heißen Kratzen über ihre Haut schabte, tiefer drang, bis sie ihr Bewusstsein erreichte. Eine ungeahnte Furcht sprang sie an, weil das Böse sie lockte, verführerisch zu ihr wisperte mit einer Stimme, die so sanft erschien, sie einlullte, bis sie nicht mehr klar zu denken vermochte.
Morven schüttelte sie an den Schultern. „Du musst widerstehen. Lass nicht zu, dass es dich überwältigt. Du bist keine durchgeknallte Marbhadair, dazu ist viel zu viel Gutes in dir. Ich spüre es deutlich. Zweifel nicht an dir!“
Aileen konzentrierte sich, bis sie Liors Gesicht klar vor sich sah, und seine Liebe zu ihr weckte einen kühlen Wind in ihrem Herzen, der die unheilvolle Hitze verjagte. Auf einmal sah sie alles fassbarer, schärfer, und mühelos durchdrangen ihre Augen die Schatten.
Aus der Ferne hörte sie einen Schrei. Sie preschte
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