Mitternachtsfalken: Roman
rasch einen Blick auf das Flugzeugheck. Karen war verschwunden. Leo sah sich um; er wirkte jedoch eher neugierig als misstrauisch.
Die Hornet Moth war vom Propeller bis über die Kabine zugedeckt und ihre Flügel waren zurückgeschlagen, doch das Fahrwerk war deutlich zu sehen, und am anderen Ende der Kirche erkannte man den Schwanz. Wie aufmerksam war der junge Deutsche?
Leo interessierte sich glücklicherweise viel mehr für den RollsRoyce. »Netter Wagen«, sagte er. »Ist das deiner?«
»Leider nicht«, erwiderte Harald. »Mir gehört das Motorrad.« Er hielt die Achsstrebe für die Hornet Moth in die Höhe. »Das ist für meinen Beiwagen. Ich bin dabei, ihn zu reparieren.«
»Aha!« Noch immer verriet Leo keinerlei Anzeichen von Misstrauen. »Ich würde dir gerne helfen, aber von Maschinen verstehe ich
überhaupt nichts. Ich hab nur Ahnung von Pferden.«
»Na klar.« Sie waren ungefähr gleichaltrig, und Harald empfand Mitleid mit dem einsamen jungen Mann, der so weit von zu Hause fort war. Trotzdem hoffte er, Leo würde wieder verschwinden, bevor er zu viel sah.
Ein schriller Pfiff ertönte. »Abendessen«, sagte Leo.
Gott sei Dank, dachte Harald.
»War nett, mit dir zu reden, Harald. Hoffentlich sehen wir uns mal wieder.«
»Bestimmt.«
Leo stieg auf die Kiste, zog sich zum Fensterrahmen hinauf und verschwand.
»Herrgott noch mal!«, sagte Harald laut.
Karen tauchte hinter der Hornet Moth auf. Auch ihr steckte der Schreck noch in den Knochen. »Das war vielleicht knapp.«, sagte sie.
»Er war nicht misstrauisch. Er wollte sich bloß mit mir unterhalten,«
»Gott behüte uns vor freundlichen Deutschen«, erwiderte Karen lächelnd.
»Amen.« Harald liebte ihr Lächeln, es war wie ein Sonnenaufgang. Er betrachtete ihr Gesicht so lange, wie er sich traute. Dann wandte er sich der Tragfläche zu, an der Karen gearbeitet hatte. Sie reparierte die Risse in der Bespannung. Er trat näher heran und stellte sich neben sie. Karen hatte alte Kordhosen an, die aussahen, als wären sie bei der Gartenarbeit getragen worden, und ein Herrenhemd mit aufgerollten Ärmeln. »Ich klebe Leinenstreifen auf die kaputten Stellen«, erklärte sie. »Wenn der Klebstoff trocken ist, überstreiche ich die gestopften Stellen, damit sie luftdicht werden.«
»Wo hast du die Sachen her – den Klebstoff und die Farbe?«
»Aus dem Theater. Ich hab einem der Bühnenbildner schöne Augen gemacht.«
»Schön für dich.« Es fiel ihr offensichtlich leicht, Männer zu Hilfsarbeiten einzuspannen. Harald war eifersüchtig auf den Bühnenbildner. »Was tust du eigentlich den ganzen Tag im Theater?«, fragte er.
»Ich studiere die Hauptrolle in Les Sylphides ein, für den Fall, dass
ich einspringen muss.«
»Und wie stehen die Chancen dafür?«
»Schlecht. Wir haben zwei Besetzungen, da müssten schon beide ausfallen.«
»Schade. Ich hätte dich gerne mal tanzen gesehen.«
»Wenn das Unwahrscheinliche eintritt, dann besorge ich dir eine Eintrittskarte.« Karen wandte sich wieder der Tragfläche zu. »Wir müssen uns vergewissern, dass innen nichts gebrochen ist.«
»Das heißt, wir müssen den Holm mit den Rippen unter der Bespannung untersuchen.«
»Richtig.«
»Nachdem wir nun alles haben, was wir zur Reparatur von Rissen brauchen, können wir ja ein Stück aus der Bespannung schneiden und nachsehen.«
Karen war skeptisch. »Wenn du meinst.«
Harald hielt es für unwahrscheinlich, dass sich das imprägnierte Segeltuch leicht mit einem Messer durchschneiden ließ, doch er fand ein scharfes Stemmeisen auf dem Werkzeugbord. »Wo sollen wir‘s aufschneiden?«
»An den Streben.«
Harald drückte das Stemmeisen in den Stoff. Nachdem es durch die Oberfläche gebrochen war, schnitt es die Bespannung relativ leicht durch. Harald machte einen L-förmigen Schnitt und schlug den Stoff zurück. Die Öffnung war ziemlich groß.
Karen leuchtete mit einer Taschenlampe in das Loch und schaute hinein. Sie nahm sich Zeit für eine gründliche Inspektion. Endlich zog sie ihren Kopf wieder zurück, steckte den Arm ins Loch, packte irgendetwas und rüttelte daran. »Ich glaube, wir haben Glück«, sagte sie. »Nichts locker.«
Sie trat beiseite, und Harald nahm ihren Platz ein. Er streckte den Arm in das Loch, packte einen Holm und zog und zerrte daran. Die ganze Tragfläche geriet in Bewegung, doch er konnte keinen Schwachpunkt feststellen.
Karen freute sich. »Wir machen Fortschritte«, sagte sie. »Wenn ich morgen mit der Bespannung
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