Mitternachtsfalken: Roman
er mich verraten.«
Karen schwieg. Weder stimmte sie ihm zu, noch widersprach sie ihm.
»Er hat sich umgebracht, um mich zu schützen.« Plötzlich wollte Harald seine Schlussfolgerung von Karen bestätigt haben. Er packte sie bei den Schultern. »Ich habe Recht, nicht wahr?«, rief er. »So muss es gewesen sein! Er hat es meinetwegen getan! So sag doch was, um Gottes willen!«
Endlich sprach sie wieder. »Ja, ich glaube, du hast Recht«, flüsterte
sie.
Im Nu war Haralds Zorn verflogen und verwandelte sich in unsägliche Trauer, die ihn völlig überwältigte. Tränen strömten ihm aus den Augen, und sein Körper wurde von unkontrollierbaren Schluchzern geschüttelt. »O Gott«, sagte er und bedeckte sein nasses Gesicht mit beiden Händen. »Oh, mein Gott, das ist furchtbar.«
Er spürte, wie sich Karens Arme um ihn schlossen. Sachte zog sie seinen Kopf auf ihre Schulter herab. Seine Tränen durchweichten ihr Haar und liefen an ihrer Kehle herab. Sie streichelte seinen Hals und küsste sein nasses Gesicht.
»Armer Arne«, sagte Harald, seine Stimme erstickt vom Kummer. »Armer Arne.«
»Es tut mir so Leid«, murmelte Karen. »Harald, Liebster, es tut mir so Leid.«
I nmitten des Politigaarden, des Präsidiums der Kopenhagener Polizei, lag ein weitläufiger runder Innenhof im hellen Sonnenschein. Er war umringt von einer Arkade aus klassischen Doppelpfeilern, die alle völlig gleich aussahen. Für Peter Flemming war dies ein Symbol dafür, dass Ordnung und Gleichmaß der Wahrheit die Chance gaben, Licht ins Dunkel der menschlichen Verderbtheit zu bringen. Oft schon hatte er sich gefragt, ob der Architekt diesen Effekt beabsichtigt hatte oder bloß der Meinung gewesen war, ein Innenhof sei einfach eine hübsche Sache.
Flemming stand mit Tilde Jespersen in der Arkade. Sie lehnten an einem der Pfeilerpaare und rauchten. Tilde trug eine ärmellose Bluse, die die glatte Haut ihrer Arme sehen ließ. Ein feiner blonder Haarflaum bedeckte die Oberseite ihrer Unterarme.
»Die Gestapo ist fertig mit Jens Toksvig«, berichtete Flemming.
»Und?«
»Nichts.« Er war der Verzweiflung nahe und bewegte die Schultern, als wolle er damit seine Frustration abschütteln. »Natürlich hat er alles gesagt, was er weiß. Er war einer der Mitternachtsfalken, er hat Informationen an Poul Kirke weitergegeben, und er hat Arne Olufsen auf seiner Flucht Unterschlupf gewährt. Außerdem behauptet er, die ganze Geschichte wäre von Arnes Verlobter Hermia Mount organisiert worden, die für den MI6 in England arbeitet.«
»Interessant – aber das bringt uns alles nicht weiter.«
»Genau. Dummerweise hat Jens keine Ahnung, wer in den deutschen Stützpunkt auf Sande eingedrungen ist, und er weiß auch nichts von dem Film, den Harald entwickelt hat.«
Tilde sog den Rauch ein, und Peter Flemmings Blick ruhte auf ihrem Mund. Es sah aus, als küsse sie die Zigarette. Sie inhalierte und blies den Rauch durch die Nase wieder aus. »Arne hat sich das Leben genommen, um jemanden zu schützen«, sagte sie. »Ich nehme an, dass diese Person im Besitz des Films ist.«
»Sein Bruder Harald. Der hat ihn entweder selber – oder er hat ihn an jemand anders weitergegeben. Wie dem auch sei, wir müssen mit ihm reden.«
»Wo ist er?«
»Im Pfarrhaus auf Sande, nehme ich an. Das ist sein einziger Wohnsitz.« Peter sah auf seine Uhr. »In einer Stunde geht ein Zug. Ich
fahre hin.«
»Warum rufst du nicht an?«
»Ich will ihm keine Chance zur Flucht geben.«
Tilde wirkte besorgt. »Was willst du seinen Eltern sagen? Glaubst du nicht, sie könnten dir die Schuld an Arnes Tod geben?«
»Sie wissen nicht, dass ich dabei war, als Arne sich erschossen hat. Sie wissen nicht einmal, dass ich ihn festgenommen habe.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie unsicher.
»Außerdem kümmert es mich nicht die Bohne, was sie denken«, fuhr Peter ungeduldig fort. »General Braun ist an die Decke gegangen, als ich ihm sagte, die Spione hätten möglicherweise Fotos von dem Stützpunkt auf Sande. Weiß Gott, was die Deutschen dort verstecken – auf jeden Fall ist es ein tödliches Geheimnis. Und Braun macht mich dafür verantwortlich. Wenn dieser Film aus Dänemark hinausgeschmuggelt wird. Ich weiß nicht, was er dann mit mir anstellen wird.«
»Aber du warst doch derjenige, der den Spionagering überhaupt erst aufgedeckt hat!«
»Und heute bereue ich es fast.« Er ließ seinen Zigarettenstummel fallen, trat darauf und drehte ihn mit der Schuhsohle aus. »Es
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