Mitternachtsfalken: Roman
fertig werde und du die Strebe wieder dranschraubst, ist die Maschine bis auf die fehlenden Stahlseile wieder in Ordnung. Und wir haben immer noch acht Tage Zeit.«
»Nicht ganz«, sagte Harald. »Wir müssten wahrscheinlich mindestens vierundzwanzig Stunden vor dem Angriff in England sein, damit man unsere Informationen noch umsetzen kann. Dann haben wir schon mal nur noch sieben Tage. Und wenn wir am siebten Tag ankommen wollen, müssen wir am vorhergehenden. Abend starten und die Nacht hindurch fliegen. Also bleiben uns maximal sechs Tage.«
»Dann muss ich noch heute Nacht mit der Bespannung fertig werden.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich gehe jetzt besser rüber zum Abendessen, komme dann aber so schnell wie möglich wieder.«
Sie stellte den Klebstoff beiseite und wusch sich im Waschbecken die Hände mit der Seife, die sie Harald mitgebracht hatte. Er beobachtete sie verstohlen. Immer, wenn sie ihn verließ, gab es ihm einen Stich. Am liebsten, dachte er, wäre ich den ganzen Tag mit ihr zusammen, jeden Tag. Ob das das Gefühl ist, das die Leute dazu bringt, dass sie heiraten wollen? Wahrscheinlich. Will ich Karen etwa heiraten? Dumme Frage! Natürlich will ich, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Manchmal versuchte er sich vorzustellen, wie es ihnen nach zehn Jahren ergehen würde, ob sie sich dann gegenseitig satt hätten und langweilten, aber es wollte ihm nicht gelingen: Karen würde nie langweilig sein.
Sie trocknete sich die Hände ab. »Du schaust so gedankenverloren«, sagte sie. »Worüber grübelst du denn nach?«
Er spürte, wie er errötete. »Über die Zukunft. Was da noch alles auf uns zukommt.«
Sie sah ihn unverwandt an. Einen Moment lang hatte Harald das Gefühl, sie könne seine Gedanken lesen. Dann schweifte ihr Blick ab. »Ein langer Flug über die Nordsee«, sagte sie. »Tausend Kilometer ohne Land in Sicht. Sehen wir zu, dass wir diesen alten Drachen in Form bringen, damit er es auch schafft.«
Sie ging zum Fenster und stieg auf die Kiste. »Schau weg! Das ist ein unwürdiges Manöver für eine Dame.«
»Ja, ja, ich schwör‘s«, sagte er lachend.
Sie zog sich am Fensterbrett hoch, Harald scherte sich nicht um sein Versprechen. Stillvergnügt betrachtete er ihre Kehrseite, als Karen sich durch die Öffnung schob und kurz darauf seinen Blicken entschwand.
Er wandte sich wieder der Hornet Moth zu. Es konnte nicht allzu lang dauern, die geschiente Strebe wieder anzubringen. Schrauben und Muttern lagen auf der Werkbank, wo er sie abgelegt hatte. Er kniete neben dem Rad, passte die Strebe am angestammten Ort wieder ein und begann, die Bolzen anzubringen, mit der sie am Rumpf und an der Radaufhängung festgehalten wurde.
Er war gerade fertig, als Karen schon wieder zurückkehrte.
Er lächelte, erfreut über das unerwartet schnelle Wiedersehen. Doch dann erkannte er, dass sie völlig außer sich war. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Deine Mutter hat angerufen.«
Das ärgerte Harald. »Verdammt noch mal! Ich hätte ihr nie sagen dürfen, wo ich hinfahre. Mit wem hat sie gesprochen?«
»Mit meinem Vater. Aber er hat ihr gesagt, dass du definitiv nicht hier bist, und sie hat ihm das offenbar abgenommen.«
»Gott sei Dank.« Zum Glück habe ich Mutter nicht gesagt, dass ich in der alten Kirche untergekommen bin, dachte er. »Was wollte sie denn?«
»Ich habe eine sehr schlechte Nachricht für dich, Harald.«
»Was?«
»Es geht um Arne.«
Haralds Gewissen meldete sich. Er hatte in den letzten paar Tagen kaum an seinen im Gefängnis schmachtenden Bruder gedacht. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Arne. Arne ist tot.«
Im ersten Moment weigerte er sich, die Nachricht zu verstehen. »Tot?«, fragte er, als sei ihm die Bedeutung des Wortes unbekannt. »Wie ist das denn möglich?«
»Die Polizei behauptet, er hätte sich das Leben genommen.«
»Selbstmord?« Harald hatte das Gefühl, als stürze die Welt um ihn herum ein, als fielen die Kirchenmauern in sich zusammen; als stürzten alle Bäume im Park um und als würde das ganze Schloss Kirstenslot von einem Sturm hinweggeblasen. »Wieso sollte Arne sich umbringen?«
»Um einem Verhör durch die Gestapo zu entgehen. Das hat jedenfalls sein Kommandeur zu deiner Mutter gesagt.«
»Einem Verhör durch die Gestapo.« Harald erkannte sofort, was das bedeutete. »Er hatte Angst, er könnte unter der Folter zusammenbrechen.«
Karen nickte. »Das ist anzunehmen, ja.«
»Wenn er geredet hätte, dann hätte
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