Mitternachtsfalken: Roman
wäre mir heb, wenn du mich nach Sande begleiten könntest.«
In ihren klaren blauen Augen lag ein abschätzender Blick, »Selbstverständlich, wenn du meine Hilfe brauchst.«
»Und ich möchte dich meinen Eltern vorstellen.«
»Wo soll ich übernachten?«
»Ich kenne ein kleines Hotel in Morlunde. Es ist ruhig und sauber, und ich glaube, es wird dir dort gefallen.« Natürlich hätte er Tilde auch im Hotel seines Vaters unterbringen können, doch dann wäre alles, was sie tat oder ließ, direkt unter den Augen der Inselbewohner geschehen.
Über das, was vor mittlerweile sechs Tagen in seiner Wohnung geschehen war, hatten sie seither kein Wort miteinander gewechselt. Er wusste nicht, was er dazu hätte sagen sollen. Einem inneren Trieb folgend, hatte er vor Inges Augen mit Tilde schlafen wollen – und Tilde war darauf eingegangen, hatte seine Leidenschaft geteilt und schien sein Bedürfnis danach verstanden zu haben. Danach wirkte sie sehr bedrückt und verunsichert, und er hatte sie nach Hause gefahren und sich mit einem Gute-Nacht-Kuss von ihr verabschiedet.
Es hatte keine Wiederholung gegeben. Einmal war genug, um zu beweisen, was immer er damit hatte beweisen wollen. Am folgenden Abend hatte er Tilde in ihrer Wohnung auf gesucht, doch da war ihr Sohn noch wach gewesen, hatte ständig Wasser trinken wollen und sich über Albträume beklagt, sodass Peter es nicht lange aushielt. In der Fahrt nach Sande sah er nun die Chance, Tilde für sich allein zu haben.
Aber Tilde schien Bedenken zu haben. Sie stellte eine weitere praktische Frage: »Was ist mit Inge?«
»Ich organisiere einen Pflegedienst rund um die Uhr, so wie neulich, als wir auf Bornholm waren.«
»Aha.«
Sie richtete ihren Blick auf den Innenhof, während sie nachdachte, und er musterte ihr Profil: die kleine Nase, den bogenförmigen Mund, das entschlossene Kinn. Er hatte sie besessen, und es war ein überwältigendes Erlebnis gewesen. Das konnte sie doch nicht vergessen haben? »Willst du die Nacht nicht mit mir verbringen?«, fragte er.
Sie drehte sich lächelnd um und sah ihn an. »Doch, natürlich«, sagte sie. »Und deshalb geh ich jetzt meinen Koffer packen.«
Am nächsten Morgen erwachte Peter Flemming im Hotel Oesterport in Morlunde. Das Hotel war ein respektables Haus, doch Erland Berten, der Besitzer, war nicht mit der Frau verheiratet, die sich Frau Berten nannte. Erlands Ehefrau lebte in Kopenhagen und wollte sich partout nicht scheiden lassen. In Morlunde wusste niemand davon – nur Flemming, der bei den Ermittlungen im Mordfall Jacob Berten zufällig darauf gestoßen war. Flemming hatte Erland gegenüber, der mit dem Ermordeten weder verwandt noch verschwägert gewesen war, durchblicken lassen, dass er über die richtige Frau Berten Bescheid wusste. Ihm war klar, dass ihm das Geheimnis Macht über Erland verschaffte, und so hatte er es auch nie ausgeplaudert. Seit jener Zeit konnte er sich stets auf die Diskretion des Hoteliers verlassen. Was immer sich zwischen ihm und Tilde im Oesterport-Hotel abspielen mochte – von Erland Berten würde es keine Menschenseele je erfahren.
Allerdings hatten Peter und Tilde am Ende doch nicht miteinander geschlafen. Ihr Zug war mit großer Verspätung erst mitten in der Nacht angekommen, lange, nachdem die letzte Fähre nach Sande abgegangen war. Müde und schlecht gelaunt nach der strapaziösen Reise hatten sie sich zwei Einzelzimmer genommen, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Nun wollten sie mit der ersten Fähre nach Sande übersetzen.
Peter zog sich rasch an und klopfte sachte an Tildes Tür. Sie stand gerade vor dem Spiegel über dem Kamin und rückte den Strohhut auf ihrem Kopf zurecht. Peter gab ihr ein Küsschen auf die Wange, weil er ihr Make-up nicht ruinieren wollte.
Gemeinsam gingen sie zum Hafen hinunter. Als sie die Fähre bestiegen, ließen sich ein Polizist von der Wache in Morlunde und ein deutscher Soldat ihre Ausweise zeigen. Die Kontrolle war neu. Peter nahm an, dass sie auf Verlangen der Deutschen eingerichtet worden war, weil die Spione sich so sehr für Sande interessierten. Auch für ihn, Peter, konnte diese Maßnahme nützlich sein. Er zeigte den beiden seine Dienstmarke und bat sie, die Namen aller Personen aufzuschreiben, die in den nächsten Tagen zur Insel übersetzten. Es interessierte ihn, wer alles zu Arnes Begräbnis kam.
Auf der anderen Seite der Meeresstraße wartete bereits die Pferdedroschke des Hotels auf sie. Peter befahl dem
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