Mitternachtsflut
als ob es erst gestern gewesen war. Nach längerer Zeit, hatte sie wieder einen vierwöchigen Aufenthalt auf der Insel verbracht. Alle – sie selbst besonders – waren glücklich, dass sie wieder hier war. Jedes Mal wenn sie kam, hatte sich die Insel wieder verändert. Nicht alles was sie sah, gefiel ihr. Wahrlich nicht! Die immer neu in den Himmel strebenden Hotelburgen oder die endlosen Bungalowanlagen im Süden, die den Blick auf die herrlichen Lavaebenen endgültig zerstörten. All das war ihr ein Dorn im Auge, doch es gab noch immer die einsamen Buchten, von den Einheimischen mit bedrohlichen Namen belegt. Die „Playa de Soccorro“ was frei übersetzt soviel wie „Bucht der Hilfeschreie“ bedeutete, war nur ein Beispiel davon. An jenem Morgen hatte sie sich gewünscht, wieder einmal den Norden zu erkunden.
Stundenlang hatten ihre Freunde sie über die Insel kutschiert und sie hatten wirklich alles gesehen und die schönsten Fleckchen ausfindig gemacht.
Irgendwann hatte der kleine Seat begonnen zu streiken. Direkt an der Einfahrt von Masca, dem verborgenen Dorf, hatte es einen lauten Schlag getan und der rechte Vorderreifen hatte sich fröhlich pfeifend verabschiedet. Schon als sie sich aus dem Auto schälte, wusste sie, dass all das einen Grund haben musste.
Wie ein Magier hatte dieses verwunschene Dorf sofort seine Arme nach ihr ausgestreckt und sie mit seinem Jahrhunderte alten Zauber umfangen. Nichts, kein Luxushotel, keine Flaniermeile, kein noch so edles Etablissement - und derer hatte sie zahllose gesehen - hatte jemals auch nur annähernd so faszinierend auf sie gewirkt. Während ihre Freunde Domingo und Humberto den lädierten Reifen wechselten, erkundete Marie ausgiebig die kleinen Gässchen. Aus jeder Ecke, aus jeder Häuserzeile schienen ihr bekannte Stimmen zuzuraunen. Noch nie war sie so verwirrt, so überwältigt von Gefühlen, die sie nicht verstand, nicht zuzuordnen vermochte. In diesem Zustand lief sie Manolo in die Arme. Manolo war nicht nur der Alcalde von Masca, sondern für die Menschen im Dorf auch eine Art allwissender, heilender Schamane. Er war nun so gar kein kommunikativer Mensch und mit Fremden sprach er schon gleich gar nicht. Der hochgewachsene, schlanke Mann mit den hellblauen Augen und dem braun gebrannten Gesicht, umrahmt von langen, weißen Haaren, die bis über die Hälfte seines Rückens reichten, der, dessen Alter niemand zu schätzen vermochte, war ein geheimnisvoller Mensch. Die Gerüchte besagten, Manolo sei schon seit ewigen Zeiten hier oben in den Bergen um Masca zu Hause, niemand, selbst die Alten, konnte sich nicht mehr erinnern, wann er gekommen war. War er nicht schon immer hier gewesen? Manolo, der Unnahbare, erschien Marie wie eine Figur aus einem Roman. Er tauchte unvermittelt vor ihr auf, als sie gerade ziellos in die nächste Gasse einbog.
„Hola, Senorita, wohin denn so eilig? Ganz langsam! Hier oben haben wir alle Zeit der Welt, immer mit der Ruhe!“ Eine kleine Weile, die wie eine Ewigkeit anmutete, war Marie nicht einmal in der Lage gewesen, ihm zu antworten. Sie starrte nur vollkommen fasziniert in seine leuchtend blauen Augen, in denen sie glaubte etwas wie Unendlichkeit erkennen zu können. Manolo wartete geduldig, bis sie ihre Fassung zurück gewonnen hatte und studierte sie währenddessen voller Neugierde. Als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, stellte er sich ihr vor und bot ihr an, sie auf ihrem Erkundungsgang zu begleiten. Marie hatte ihn, so unauffällig wie möglich, immer wieder angesehen. Von dem Mann ging eine schier unglaubliche Wärme und noch etwas aus, das sie längere Zeit nicht in Worte fassen konnte. Erst nachdem sie schon eine Weile durch die Gässchen gestreift waren, wurde ihr klar, was sie sah und fühlte. Sie hatte nie wirklich gewusst, was andere Menschen meinten, wenn sie von Aura sprachen. Nun wurde es ihr unvermittelt klar. Diesen Mann umgab eine wahrlich starke, eine strahlende Aura – zum ersten Mal in ihrem Leben, sah sie das Umfeld eines Menschen leuchten. Ihre Freunde staunten nicht schlecht, als sie und Manolo nach ihrem ausgiebigen Rundgang, fröhlich plaudernd, gemeinsam um die Ecke bogen. Als er dann noch alle wie alte Bekannte begrüßte und nach einem besorgten Blick auf Marie lächelnd nachfragte, ob sie denn Hunger habe und er ihr und ihren Begleitern eine herrliche Paella zauberte, verstand vor allem Domingo die Welt nicht mehr. Viel später, auf dem Weg zurück nach Puerto de la Cruz, tief
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