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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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der Zauber des Lakens auf beiden Seiten des Loches? Aufgeregt stellte er sich seine kopflose Naseem vor, wie sie unter seinen prüfenden Augen, seinem Thermometer, seinem Stethoskop erschauerte und versuchte, sich in ihrer Vorstellung ein Bild von ihm zu machen. Sie befand sich natürlich im Nachteil, weil sie nichts als seine Hände gesehen hatte ...
    Mit unerlaubter Verzweiflung begann Aadam zu hoffen, dass Naseem Ghani, eine Migräne entwickele oder ihr unerblicktes Kinn abschürfe, damit sie sich ins Gesicht sehen konnten. Er wusste, wie berufswidrig seine Gefühle waren, unternahm aber nichts, sie zu unterdrücken. Viel konnte er auch nicht tun. Sie hatten ein eigenes
Leben angenommen. Kurzum: Mein Großvater hatte sich verliebt und betrachtete das Laken mit dem Loch als etwas Geheiligtes und Magisches, denn durch dieses Laken hatte er die Dinge gesehen, die das Loch in ihm gefüllt hatten, das entstanden war, als er von einem Erdklumpen auf die Nase geschlagen und von dem Fährmann Tai beleidigt worden war.
    An dem Tag, an dem der Weltkrieg endete, bekam Naseem die ersehnten Kopfschmerzen. Solche historischen Zusammentreffen haben die Existenz meiner Familie in der Welt verunreinigt und vielleicht besudelt.
    Er traute sich kaum, auf das im Loch des Lakens Eingerahmte zu blicken. Vielleicht war sie abgrundtief hässlich – vielleicht erklärte das dieses ganze Theater ... er blickte hin. Und sah ein sanftes Gesicht, das ganz und gar nicht hässlich war, eine gepolsterte Fassung für ihre glänzenden Edelsteinaugen – die braun und goldgesprenkelt waren: Tigeraugen. Doktor Aziz verfiel ihr endgültig. Und Naseem platzte heraus: «Aber Doktor, mein Gott, was für eine Nase !» Ghani, wütend: «Tochter, hüte deine ...» Aber Patientin und Arzt lachten gemeinsam, und Aziz sagte: «Ja, ja, sie ist ein ganz beachtliches Exemplar. Man sagt mir, Dynastien warten darin ...» Und er biss sich auf die Zunge, weil er beinah hinzugefügt hätte: «... wie Rotz.»
    Und Ghani, der drei lange Jahre blind neben dem Betttuch gestanden und immer gelächelt hatte, begann wieder einmal sein unerforschliches Lächeln zu lächeln, das sich auf den Lippen der Ringerinnen spiegelte.
     
    In der Zwischenzeit hatte der Fährmann Tai seine unerklärte Entscheidung getroffen, das Waschen aufzugeben. In einem von Süßwasserseen getränkten Tal, in dem selbst die Ärmsten auf ihre Sauberkeit stolz sein konnten (und es auch waren), zog Tai es vor, zu stinken. Drei Jahre lang hatte er sich nun weder gewaschen noch gebadet, nachdem er den Rufen der Natur nachgekommen war. Jahrein,
jahraus trug er dieselben Kleider; seine einzige Konzession an den Winter bestand darin, dass er seinen Chughamantel über seine verfaulenden Pajamas zog. Der kleine Korb mit heißen Kohlen, den er nach kaschmirischer Art unter dem Chughamantel trug, um sich in der bitteren Kälte warm zu halten, belebte und verstärkte seine üblen Gerüche nur. Er gewöhnte sich an, langsam an dem Haus der Aziz’ vorbeizutreiben und seine fürchterlichen Ausdünstungen über den kleinen Garten und ins Haus hinein auszuströmen. Blumen starben. Vögel flohen vom Sims vor dem Fenster des alten Vater Aziz. Natürlich verlor Tai Arbeit, besonders den Engländern widerstrebte es, von einer menschlichen Abtrittgrube übergesetzt zu werden. Rund um den See erzählte man sich, dass Tais Frau, von der plötzlichen Schmutzigkeit des Alten zum Wahnsinn getrieben, flehentlich um eine Erklärung gebeten habe. Er habe geantwortet: «Frag unseren aus dem Ausland zurückgekehrten Doktor, frag diesen Nakkoo, diesen deutschen Aziz!» War es also ein Versuch, die überempfindliche Nase des Doktors zu beleidigen (in der das Jucken der Gefahr unter dem betäubenden Beistand der Liebe etwas nachgelassen hatte)? Oder eine Geste der Unveränderlichkeit, dem Eindringen des Doktori-Koffers aus Heidelberg zum Trotz? Einmal fragte Aziz den steinalten Mann geradeheraus, wofür das alles gut sei, aber Tai hauchte ihn nur an und ruderte weg. Der Atem warf Aziz beinahe um; er war schneidend wie eine Axt.
    1918 starb Doktor Aziz’ Vater, seiner Vögel beraubt, im Schlaf, und sofort legte seine Mutter, die dank des Erfolgs von Aziz’ Praxis das Edelsteingeschäft hatte verkaufen können und den Tod ihres Ehemanns nun als barmherzige Erlösung von einem Leben voller Verpflichtungen ansah, sich auf ihr eigenes Sterbebett und folgte ihrem Mann noch vor Ablauf der vierzigtägigen Trauerzeit. Als die

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