Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Vollzug der Ehe feierte, traf eine vom Grundbesitzer gemietete Limousine ein, um meine Großeltern nach Amritsar zu bringen, wo sie den Frontier Mail nehmen würden. Die Berge drängten sich zusammen und starrten, als mein Großvater zum letzten Mal seine Heimat verließ. (Er sollte noch einmal wiederkommen, aber nicht wieder weggehen.) Aziz meinte, er sähe einen alten Fährmann an Land stehen, der sie vorbeifahren sehen wollte – aber das war wahrscheinlich ein Irrtum, da Tai krank war. Die Blase von einem Tempel auf dem Sankara Acharya, den die Moslems sich angewöhnt hatten Takht-e-Sulaiman oder Thron Salomons zu nennen, schenkte ihnen keine Beachtung. Winterliche Pappeln und schneebedeckte Safranfelder wellten sich um sie herum, als das Auto nach Süden fuhr, mit einer Ledertasche im Kofferraum, die unter anderem ein Stethoskop und ein Betttuch enthielt. Doktor Aziz hatte in der Magengrube ein Gefühl, das der Schwerelosigkeit nahe kam.
Oder dem Fallen.
(... Und jetzt spiele ich die Rolle des Gespenstes. Ich bin neun Jahre alt, und die ganze Familie, mein Vater, meine Mutter, das Messingäffchen und ich, sind zu Besuch im Haus meiner Großeltern in Agra, und die Enkelkinder – darunter ich – führen das traditionelle Neujahrsstück auf, und ich habe die Rolle des Gespenstes. Folglich durchstöbere ich – heimlich, um die Geheimnisse der bevorstehenden Theateraufführung zu bewahren – das Haus nach
einer geisterhaften Verkleidung. Mein Großvater ist ausgegangen und macht Visiten. Ich bin in seinem Zimmer. Und hier oben auf diesem Schrank liegt eine alte Truhe, von Staub und Spinnweben bedeckt, aber unverschlossen. Und hier, da drinnen, liegt die Erhörung meiner Gebete. Nicht einfach ein Betttuch, sondern eins, in das schon ein Loch geschnitten ist! Hier liegt es, in dieser Ledertasche in dieser Truhe, direkt unter einem alten Stethoskop und einer Tube mit verschimmeltem Wick-Inhaliermittel ... Der Auftritt des Lakens in unserer Vorstellung war nichts weniger als eine Sensation. Mein Großvater warf einen Blick darauf und erhob sich brüllend. Er eilte auf die Bühne und entgeisterte mich vor aller Augen. Meine Großmutter spitzte ihren Mund so, dass er zu verschwinden schien. Der eine brüllte mich mit der Stimme eines vergessenen Fährmanns an, die andere drückte ihren Zorn durch verschwundene Lippen aus, und so verwandelten sie gemeinsam den Furcht erregenden Geist in ein weinendes Wrack. Ich floh, machte mich aus dem Staub und lief in das kleine Kornfeld, ohne zu wissen, was geschehen war. Dort saß ich – vielleicht an genau der Stelle, an der Nadir Khan gesessen hatte! – mehrere Stunden lang, schwor mir immer wieder, dass ich nie wieder eine verbotene Truhe öffnen würde, und nahm ihnen vage übel, dass sie nicht verschlossen gewesen war. Aber aus ihrem Zorn konnte ich schließen, dass das Laken irgendwie sehr wichtig war.)
Ich bin von Padma unterbrochen worden, die mir mein Essen gebracht und dann mit einer Erpressung vorenthalten hat: «Wenn du schon die ganze Zeit mit diesem Geschreibsel verbringst und dir dabei die Augen verdirbst, musst du es mir wenigstens vorlesen.» Ich habe für mein Brot gesungen – aber vielleicht erweist sich unsere Padma als nützlich, denn es ist unmöglich, sie davon abzuhalten, kritisch zu sein. Besonders böse ist sie wegen meiner Bemerkungen über ihren Namen. «Was weißt du schon, du Stadtjunge?», schreit sie – ihre Hand schneidet die Luft. «In meinem Dorf ist es keine
Schande, nach der Dunggöttin zu heißen. Schreib sofort, dass du Unrecht hast, ganz und gar.» Den Wünschen meines Lotos gemäß füge ich also unverzüglich einen kurzen Päan an den Dung ein.
Dung, der düngt und die Ernte wachsen lässt! Dung, der frisch und feucht zu dünnen, chapatiähnlichen Kuchen gepresst und an die Bauleute im Dorf verkauft wird, die ihn benutzen, um die Wände ihrer aus Lehm gebauten Häuser zu sichern und zu verstärken! Dung, der lange braucht, bis er aus dem hinteren Ende des Rindviehs kommt und seinen göttlichen und geheiligten Status erklären kann! O ja, ich hatte Unrecht, ich gebe zu, ich hatte Vorurteile, zweifellos, weil seine unglückseligen Gerüche eine Art haben, meine empfindliche Nase zu beleidigen – wie wunderbar, wie unbeschreiblich schön muss es sein, nach der Dungzustellerin genannt zu werden!
... Am 6. April 1919 roch die heilige Stadt Amritsar (prächtig, Padma, himmlisch!) nach Exkrementen. Und vielleicht beleidigte
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