Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Kellnerin ausreichend Trinkgeld dafür zu geben, dass sie danach sauber macht. Und schaut, da kommt unser Mittagessen. Wie wäre es, wenn wir uns darauf stürzen und nicht aufeinander?«
    Nachdem die Kellnerin die Sandwiches auf den Tisch gestellt hatte und wir das ohne Mayo ausfindig gemacht hatten, fragte ich wieder: »Also, warum muss sie jetzt essen? Wenn es nicht daran liegt, dass sie nichts von mir nimmt – was Sie ja behauptet haben –, warum dann?«
    Sullivan zupfte mit unwillkürlich verzogener Unterlippe den Salat aus seinem Sandwich. »Ich habe dir nur gesagt, dass sie eigentlich verblassen und immer unsichtbarer werden müsste, falls sie nichts von dir nimmt. Und wenn überhaupt, sieht sie jetzt sogar noch weniger …
ätherisch
aus, als ich sie zuletzt gesehen habe.« Nuala öffnete den Mund, als wollte sie protestieren, und er fügte rasch hinzu: »Ich habe damals beobachtet, wie deine Schwester zwischen zwei Opfern dahingeschwunden ist.«
    Nuala blieb stumm. Nicht nur stumm, sondern starr und stumm. Ich meine damit das vollständige Fehlen von Lauten, Bewegungen, Blinzeln, Atmen. Sie war eine Statue. Und dann sagte sie sehr leise: »Meine Schwester?«
    »Du wusstest nicht, dass du … Na ja, das konntest du wohl nicht wissen, oder?« Sullivan nahm die Tomaten von seinem Roastbeef und legte sie ordentlich beiseite, so dass der Tomatenstapel den Salat nicht berührte. »Natürlich hat sie nicht so ausgesehen wie du, als ich sie erlebt habe – da ihr ja ganz verschiedene Formen annehmen könnt. Aber sie war auch eine
Leanan Sidhe
. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass ihr verwandt seid, wenn Eleanor es mir nicht verraten hätte. Ihr habt denselben Vater. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so aus der Fassung bringen.«
    Die letzten Worte passten nicht so recht zu seiner bisherigen Einstellung ihr gegenüber. Vielleicht hatte ihr betroffenes Schweigen sein Herz erweicht.
    »Es gibt zwei von uns?«
    »Und man nennt euch beide gleich«, sagte Sullivan. Er sah sie an, als sollte ihr das etwas sagen. »Die auf dem Hügel. Im Gegensatz zu denen unter dem Hügel. Also wie die Menschen. Das ist keine nette Bezeichnung.«
    »Moment«, warf ich ein. »
Sie
bezeichnen Nuala als menschlich?«
    Ich dachte, ich hätte nicht allzu viel Hoffnung in meine Stimme gelegt, doch Sullivan erwiderte hastig: »Das meinen sie nicht wörtlich. Sie sagen das, weil die
Leanan Sidhe
so viel Zeit mit Menschen verbringt und oft auch wie ein Mensch aussieht. Sogar menschliche Gewohnheiten annimmt.«
    Ich erinnerte mich, wie Nuala im Kino gesessen und davon geträumt hatte, Regisseurin zu werden. Sehr menschlich.
    Als ich merkte, dass Sullivan Nuala anstarrte, wandte ich mich ihr zu. Sie hatte die Augen geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag dieses unverschämt genüssliche Lächeln. In der Hand hielt sie einen angebissenen Kartoffelchip.
    »Ich habe dir doch gesagt, dass du Chips mögen wirst«, sagte ich.
    Nuala öffnete die Augen. »Ich könnte nur davon leben.«
    »Dann würdest du bald zweihundert Kilo wiegen.« Sullivan biss von seinem Sandwich ab und schluckte. »Ich habe noch nie gesehen, dass eine von
ihnen
menschliche Nahrung isst. Na ja, es gibt Geschichten darüber, dass ein paar der winzigen Arten Bohnen und so etwas essen, obwohl ich auch das nie selbst gesehen habe. Aber … wann hast du denn angefangen, menschliche Speisen zu essen? Kannst du dich an das erste Mal erinnern?«
    Bei der Erinnerung daran, wie ich ein Reiskorn von Nualas Unterlippe gelutscht hatte, wurde mir unangenehm flau im Magen.
    »James hat mir etwas von seinem Reis gegeben. Vor ein paar Tagen.«
    Sullivan kniff die Augen zusammen, nahm einen weiteren Bissen und kaute, um den Denkprozess zu unterstützen. »Was, wenn das die Umkehrung dessen ist, was Menschen im Feenreich passiert? Es ist ziemlich bekannt, dass man nichts essen darf, was einem im Feenreich angeboten wird, weil man sonst für immer dort gefangen ist. Ich habe zwar nie gehört, dass das auch umgekehrt für Feen und menschliche Speisen gilt. Allerdings kann ich mir auch nicht viele Situationen vorstellen, in denen eine Fee Essen von einem Menschen annehmen würde. Außer natürlich in dem Magengeschwüre verursachenden Szenario, das ihr beiden euch für mich ausgedacht habt.«
    »Ich kann kein Mensch werden«, erklärte Nuala. Ihre Stimme klang barsch, entweder vor Wut oder aus Verzweiflung.
    Abwehrend hob Sullivan die Hand. »Das habe ich nicht behauptet. Aber du bist

Weitere Kostenlose Bücher