Mitternachtskinder
Nuala aus dem Restaurant kam. Was auch immer sie vorhin gefühlt haben mochte, war jetzt einem wilden Ausdruck in ihren Augen gewichen.
»Kann’s losgehen?«, fragte ich.
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James
W enn Nuala meine Gedanken noch hätte lesen können, hätte sie mich umgebracht. Denn während wir gemeinsam durchs hohe Gras stapften, dachte ich, dass sie sehr menschlich aussah, obwohl sie ja darauf beharrte, sie könne kein Mensch werden. In der Stadt hatte ich ihr einen Pulli und Jeans gekauft (die sie grässlich fand, weil sie einen Großteil ihrer Haut bedeckten – was der Sinn der Sache war), damit sie nicht erfror, wenn wir an diesem Abend durch die Hügel streiften.
Außerdem fand ich es ja nicht schlecht, dass sie menschlich aussah. Im Gegenteil. Dadurch wurde die Tatsache, dass ich ihre Hand hielt und wir dem König der Toten entgegengingen, etwas weniger beängstigend. Und die Vorstellung, dass sie sich vielleicht, nur vielleicht, nach Halloween noch an mich erinnern würde und wir eine Zukunft haben könnten, die über ein bisschen Knutschen in der Lobby vom Wohnheim hinausging, wurde ein kleines bisschen glaubhafter.
»Hier draußen ist es scheißkalt«, fauchte Nuala.
»Man könnte meinen, ich hätte recht gehabt, als ich dir gesagt habe, du bräuchtest einen Pulli«, entgegnete ich.
»Halt den Mund«, sagte sie. Sie war eine mattbraune Silhouette vor dem umwerfend rosigen Himmel. Ein paar Bäume am Fuß der Hügel hatten ihr Laub bereits verloren, und die kahlen schwarzen Äste verliehen dem Ganzen bereits eine winterliche Atmosphäre. »Du verschreckst die Toten. Hörst du den Dornenkönig schon, oder was?«
Ich hörte ihn nicht. Ich hatte so viele Abende lang getan, als hörte ich nichts, dass ich mich fragte, ob ich ihn überhaupt noch hören konnte. Meinem Gefühl nach war es spät genug, dass er hier draußen unterwegs sein und seinen gehörnten Angelegenheiten nachgehen sollte, doch in den Hügeln blieb es still. Bis auf uns, die wir durchs hohe Gras trampelten. Tagsüber hatte ich das Knistern der Halme kaum wahrgenommen, weil es vom Wind übertönt worden war. Doch jetzt war der Wind nur noch eine lautlose, eiskalte Brise, und wir waren so laut wie eine Herde Elefanten. »Bis jetzt höre ich nur ein dickes, fettes Nichts. Lass uns noch ein Stück weitergehen bis zu der Stelle, an der ich ihn schon mal gesehen habe.«
»Geh leiser«, zischte Nuala.
»Ich kann nicht leiser gehen. Außerdem redest du. Das ist lauter, als wenn wir einfach nur gehen.«
Sie zerrte an meiner Hand. »Nichts auf der Welt könnte so laut sein wie deine Geräusche beim Laufen.«
»Bis auf deine schrille Stimme, meine Liebe«, entgegnete ich. »Wie die einer Harpyie er…
Uff!
«
Ich blieb so plötzlich stehen, dass Nualas Hand aus meiner gerissen wurde und sie stolperte.
»Was ist?« Nuala rieb sich die Finger und kam zu mir zurück.
»Tut mir leid«, antwortete ich tonlos. Ich blickte nach unten. »Ich bin über etwas gestolpert.«
Zu meinen Füßen lag etwas auf einem Haufen. Jemand. Das Ding war so seltsam hingestreckt, dass ein lebender Jemand diese Haltung kaum hinbekommen hätte. Den Bruchteil eines Atemzugs lang dachte mein Hirn:
Dee.
Doch dann erkannte ich, dass es ein Mann war. In einer langen Uniformjacke, Leggings und ledernen, stiefelartigen Dingelchen an den Füßen. Entweder ein sehr weit verirrter Rollenspieler oder jemand, der sich mit Feen eingelassen hatte.
Probeweise stupste Nuala die Schulter mit dem Fuß an, und der Körper rollte schlaff auf den Rücken.
»Oh, zum Kotzen«, sagte ich, um mich nicht tatsächlich zu übergeben.
Nuala seufzte leise. »Eleanors Gefährte. Er war gestern Nacht auch beim Tanz.«
»Was glaubst du, wer ihn getötet hat?«
Sie berührte das Heft, das noch aus seinem Herzen ragte, mit der Schuhspitze. »Das ist ein beinerner Dolch.
Sie
haben das getan. Ich habe Eleanor ständig mit solchen Waffen gesehen. Als ich ihm begegnet bin, hat er mir erzählt, er würde eines Tages König werden. König der Leichen vielleicht.«
Ich war schockiert, entsetzt, fasziniert. Ich hatte noch nie eine richtig tote Leiche gesehen, außer im Fernsehen, und das hier war fürs erste Mal ein ziemlich grausiges Exemplar. Ich überlegte, ob wir die Polizei anrufen sollten oder so. Ich meine, ich fand es ziemlich achtlos von den Feen, jemanden zu erstechen und ihn dann einfach herumliegen zu lassen.
»Was hast du getan, das dich das Leben gekostet hat, Mensch?«, fragte Nuala den
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