Mitternachtskinder
Leichnam.
Ich sah sie an. Das klang sehr mitfühlend – vor allem aus ihrem Munde. Und dann merkte ich, dass das Lied des Dornenkönigs in meinem Kopf war und ich nicht wusste, seit wann ich es dort hörte.
»Nuala, das Lied. Er ist …«
Sie packte mich am Arm und riss mich herum. »Da!«
Und da war er. Das mächtige Geweih nahm die Form der kahlen Äste hinter ihm wieder auf. Er schritt an uns vorbei und war bereits mehrere Meter weit weg. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich ihm nachlaufen müsste. Ich hatte gedacht, dass man vor etwas so Schrecklichem eher
davon
lief.
Nuala und ich folgten ihm, doch wir kamen ihm nicht näher. Nein, der Abstand zwischen uns wurde größer, ein wahres Meer aus rot-goldenem Gras. Und dann wurde mir klar, dass er im ruhigen, fließenden Galopp eines gewaltigen Tieres rannte. Das Geweih schaukelte bei jedem langen Sprung vor und zurück.
Als ich nun losrannte, bemerkte ich, dass auch Nualas Schritte schneller und härter klangen. Der gehörnte König hinterließ eine Spur aus niedergetrampeltem Gras, das sich aber aufrichtete, kaum dass wir es erreichten. Die kalte Luft fühlte sich beißend in meinem Hals an, und ich wollte gerade aufgeben, als ich sah, dass ein langer, schwarzer Umhang hinter ihm herflatterte.
Ich stürzte mich in die Verfolgungsjagd, als ginge es um Leben und Tod. Ich streckte mich, soweit ich konnte, und meine Finger erhaschten den Stoff, grob und kalt wie der Tod zwischen meinen Fingern. Mit der anderen Hand griff ich nach Nuala. Ich spürte, wie ihre Finger meine packten. Einen Augenblick später schleifte der Dornenkönig uns bereits hinter sich her.
Ich wusste nicht, ob ich rannte oder flog. Das Gras wurde unter uns immer schneller niedergedrückt, und die Sonne verschwand hinter den Hügeln in unserem Rücken. Die Luft gefror mir in Mund und Nase, und ich stieß nur noch weiße Wölkchen aus. Über uns kamen die Sterne hervor, Millionen und Abermillionen, mehr Sterne, als ich je zuvor gesehen hatte. Ich hörte Nuala vor Freude oder Angst nach Luft schnappen. Vielleicht war es beides.
Und wir rannten immer noch. Kometen jagten über uns hinweg, der Wind unter uns, und die Hügel erstreckten sich unendlich weit. Die Nacht wurde tiefer und dunkler, und plötzlich tauchte ein gewaltiger schwarzer Fluss zwischen den Hügeln auf. Und wir hielten genau darauf zu.
Mein Verstand schrie:
Lass los.
Vielleicht hatte auch Nuala geschrien.
Ich weiß nicht, warum ich mich trotzdem an dem schwarzen Leichentuch festklammerte, das von den Schultern des Königs herabfloss. Der Tod glitzerte unter mir, so schwarz und voller Sterne wie der Himmel über uns. So etwas hatte ich bisher nie gesehen. Vielleicht hatte ich es einmal aus dem Augenwinkel erhascht – eine finstere Ahnung vom Ende. Aber noch nie war ich kopfüber und mit offenen Augen hineingestürzt.
Jemand begann zu lachen, als unsere Körper auf die Wasseroberfläche trafen.
[home]
Nuala
So traurig wie nie, wenn ich dein Lächeln seh
So falsch wie nie, wenn du die Wahrheit sprichst
So tot wie nie, wenn ich seh, dass du lebst
So allein wie nie, wenn du bei mir bist.
Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
E s war dunkel.
Nein, nicht dunkel. Es war
nichts
. James’ Hand hätte in meiner liegen sollen, aber ich spürte nichts. Ich konnte weder den Pulli um meine Schultern fühlen noch den Atem, der aus meinem Mund strömte. Nicht einmal meinen Mund selbst.
Ich hob die Hand an die Lippen, um mir zu beweisen, dass sie noch da waren, und da war nichts. Keine Lippen. Keine Hände. Nur alles verschlingende Dunkelheit – denn natürlich hatte ich keinen Körper, also hatte ich auch keine Augen, mit denen ich etwas hätte sehen können.
Es gab keine Zeit.
Nichts erstreckte sich vor mir und hinter mir, ohne Anfang und Ende.
Ich existierte nicht mehr.
Ich begann zu schreien. Doch ohne Mund, Stimmbänder oder jemanden, der es hören konnte – was bedeutete es schon?
Dann hatte ich auf einmal einen Arm, denn jemand packte ihn. Und Ohren, denn ich hörte James sagen: »Nuala! Warum hört sie mich nicht?«
Etwas Körniges wurde auf meiner Haut verrieben, mir in die Hand gedrückt und auf die Lippen gestrichen. Salz, wie auf diesen Kartoffelchips.
»Willkommen in deinem Tod«, sagte eine andere Stimme, und diese war tief und erdig und dröhnte unter unseren Füßen oder aus meinem Inneren hervor.
Ich riss die Augen auf. Plötzlich wurde mir ihre alltägliche Magie
Weitere Kostenlose Bücher