Mitternachtskinder
sowieso eine Doppelnatur. Vielleicht neigst du einfach eher zur einen oder zur anderen Seite. James.«
Ich blinzelte, als er mich ansprach. »Was ist?«
»Paul hat uns schon erzählt, dass er jeden Abend Cernunnos hört. Du hast zu diesem Thema bisher taktvoll geschwiegen, aber ich hatte da einen Verdacht.«
Ich legte mein Sandwich auf den Teller. »Das können Sie mir ehrlich nicht vorwerfen. Ich habe keinen Pakt mit irgendwem geschlossen oder mit diesem Cernunnos auch nur geredet oder sonst irgendwas getan, das man als potenziell gesundheitsschädlich für mich oder andere auslegen könnte.«
»Immer mit der Ruhe. Ich dachte nur, wenn du ihn hörst oder siehst, könntest du deine neue Freundin hier zu ihm schicken. Ich weiß nicht, was genau er eigentlich ist, aber vielleicht weiß er mehr über ihre Lage.« Sullivan blickte zu den vorbeifahrenden Autos. »Eleanor hat eine Verbindung zwischen Cernunnos und den
Leanan Sidhe-
Schwestern angedeutet.«
»Was, wenn diese Verbindung der zwischen mir und diesem Sandwich entspricht?«, fragte ich. »Ich habe nicht die Absicht, Nuala zu einem Treffen mit dem König der Toten zu schicken, wenn sie gerade aus irgendeinem Grund ihre sämtlichen Wonderwoman-Kräfte verliert. So kann sie ihm wohl kaum in die Eier treten, falls die Sache schiefläuft.«
Sullivan zuckte mit den Schultern. »Das halte ich für die beste Idee. Was bleibt uns sonst noch? Du hast gesagt, dies wäre ihr sechzehntes Jahr, nicht? Also … soweit wir wissen, müsste sie wieder ganz normal sein, wenn sie verbrannt ist.«
»
Falls
ich brenne«, sagte Nuala und schaute auf ihren Teller hinab.
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Vielleicht will ich nicht verbrennen«, sagte sie.
Schweigen senkte sich über den Tisch. Sullivan brach es mit sanfter Stimme. »Nuala.« Er nannte sie zum ersten Mal beim Namen. »Ich habe deine Schwester brennen sehen, als ich im Feenreich war. Sie musste es tun. Ich weiß, dass du nicht willst – es ist schrecklich, dass du dich selbst verbrennen musst. Doch wenn du es nicht tust, wirst du sterben.«
Nuala blickte nicht von ihrem Teller auf. »Vielleicht wäre mir das lieber, als wieder so zu werden wie vorher.« Sie knüllte ihre Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch. »Ich glaube, ich muss zur Toilette.« Sie warf mir ein aufgesetztes Lächeln zu. »Es gibt für alles ein erstes Mal, was?«
Damit rückte sie den Stuhl vom Tisch ab, stand auf und verschwand im Restaurant.
Sullivan seufzte und presste sich zwei Finger ins Auge. »Das ist wirklich übel, James. Ihre Schwester ist nicht annähernd so menschlich wie sie gewesen. Sie schien es kaum zu spüren, als sie brannte. Nuala …« Er machte dieselbe Geste mit halb geschlossenen Augen wie vorhin, dieses angedeutete Schaudern. »Das wird genauso sein, wie einen Menschen bei lebendigem Leib zu verbrennen.«
Ich holte meinen Troststein heraus und rieb ihn wie verrückt zwischen den Fingern. Dabei konzentrierte ich mich auf den Kreis, den mein Daumen auf dem Stein beschrieb.
»Du hattest recht, okay? Das wollte ich damit sagen«, erklärte Sullivan. »Sie ist nicht wie die anderen. Es war zwar trotzdem saudumm von dir, nicht vor ihr davonzulaufen, als sei der Leibhaftige hinter dir her. Aber sie ist
wirklich
anders.«
»Ich gehe mit ihr zu Cernunnos«, sagte ich. Sullivan öffnete den Mund. »Sie wissen, dass Sie mich nicht daran hindern können. Ich weiß, dass Sie das gern tun würden. Sagen Sie mir nur, wie ich uns schützen kann. Wenn das überhaupt geht.«
»Herr im Himmel«, meinte er. »Als dein Lehrer und Wohnheimbetreuer sollte ich eigentlich dafür sorgen, dass du nicht in Schwierigkeiten gerätst, statt dir noch zu sagen, wie du sie findest.«
»Das war Ihre Idee. Also muss ein kleiner Teil von Ihnen gewollt haben, dass ich gehe, denn sonst hätten Sie das nicht vor mir erwähnt.«
»Komm mir nicht mit umgekehrter Psychologie«, erwiderte Sullivan. Mit den Fingern strich er über die Falte zwischen seinen Augenbrauen. »Ich würde euch gern begleiten, aber ich höre ihn dieses Jahr nicht. Man geht nicht zu ihm, wenn er einen nicht ruft. Das wäre … vollkommen wahnsinnig. Scheiße, James. Ich weiß auch nicht. Trage etwas Rotes. Steck dir Salz in die Tasche. Das ist immer gut.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich so etwas von einem Lehrer höre«, bemerkte ich.
»Und ich kann nicht glauben, dass ich ein Lehrer bin, der dir das sagt.«
Ich schrieb mir gerade
rot
und
Salz
auf die Hand, als
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