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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Bühnenbeleuchtung färbte sein Haar noch rötlicher, als es in Wirklichkeit war. Während er zu seiner Markierung ging, sprach er weiter. »Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das …« Er machte eine Pause.
    »Die Musik bricht ab«, sagte ich.
    James schloss die Augen. »… tut mir aufrichtig leid.«
    Ich stieg zu ihm auf die Bühne. »Wenn du die Szene spielst, in der sie dir auf den Kopf zusagen, was du wirklich bist, muss jemand der Musik den Einsatz so geben, dass sie genau zu den Worten passt. Vergiss das nicht.«
    Eine Pause entstand, nur eine Sekunde zu lang, ehe James antwortete: »Du wirst den Einsatz geben.« Die Pause verriet mir, dass er nicht ganz sicher war. Er wusste nicht, ob unser Plan heute Nacht funktionieren würde. Ich wusste es auch nicht.
    Tatsache war: Ich hatte keine Ahnung, ob ich für ein Happy End geschaffen war.
    »Ja«, sagte ich, nachdem sich in der Unterhaltung ein Loch aufgetan hatte, in dem man einen Lastwagen hätte versenken können. »Ja, natürlich.« Ich war schon wieder müde. Es war eine schwere Müdigkeit – als würde ich diesmal, wenn ich erst eingeschlafen war, nicht mehr aufwachen. James schaute mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster in die Nachmittagssonne. Sein Blick ging in die Ferne. Mir war klar, dass er die drangvolle Energie von Halloween ebenso stark spürte wie ich. »Würdest du mein Lied spielen?«, bat ich.
    »Wirst du dazwischenrufen, wenn ich es falsch mache?« Aber er nahm auf der Klavierbank Platz, ohne meine Antwort abzuwarten. Er saß nicht wie ein richtiger Pianist, sondern mit hängenden Schultern und den Handgelenken auf den Tasten. »Ich fürchte, ich kann das nicht ohne dich.«
    »Lügner«, erwiderte ich. Trotzdem setzte ich mich zu ihm an den Flügel wie damals an seinem ersten Tag am Klavier. Auf meinem Platz auf der Kante der Klavierbank umgaben mich seine Arme, und ich presste mich an seinen Körper. Wie schon zuvor, schmiegten sich meine Arme an seine, und ich legte die Finger auf seine Hände. Mein Rücken folgte der Kurve seiner nach vorn gekrümmten Brust. Aber diesmal bekam er keine Gänsehaut. Und diesmal drückte er das Gesicht seitlich in mein Haar und sog scharf die Luft ein. Diese Geste verriet ein so quälendes Begehren, dass ich seine Gedanken nicht zu lesen brauchte.
    Und diesmal zog er die Hände unter meinen hervor und legte sie obendrauf. Die Tasten waren warm von seiner Berührung, als wären sie lebendig.
    »James«, sagte ich.
    Mit einer bekritzelten Hand nahm er meinen Zeigefinger und drückte ihn auf die Taste.
    Ich wünschte mir so sehr einen Ton, dass es weh tat.
    Die Taste wisperte nur, als sie niedergedrückt wurde, und stieg mit einem leisen Fauchen unter meinem Finger wieder empor. Keine Musik.
    »Bald«, meinte James. »Bald wirst du genauso schlecht Klavier spielen können wie ich.«
    Lange starrte ich auf seine Finger auf meinen Fingern auf den Tasten, lehnte mich rücklings an ihn und schloss dann die Augen.
    »Sie haben vor, Dee heute Nacht etwas anzutun«, erklärte ich schließlich. »Deshalb hat Eleanor dir erzählt, wie du meine Erinnerungen retten kannst. Sie will dich bei meiner Verbrennung haben, damit du nicht nach Dee suchst.«
    James antwortete nicht. Ich fragte mich schon, ob ich das überhaupt laut ausgesprochen hatte.
    »James, hast du mich gehört?«
    Seine Stimme war tonlos. »Warum hast du es mir gesagt?«
    Ich hatte mir alle möglichen Reaktionen ausgemalt, aber diese gewiss nicht.
»Was?«
    Er sprach jedes Wort deutlich und langsam aus, als bereitete ihm das Schmerzen. »Warum – hast – du – es – mir – gesagt?«
    »Weil du sie liebst«, erwiderte ich betrübt.
    Er ließ die Stirn auf meine Schulter sinken. »Nuala«, sagte er. Aber weiter sagte er nichts.
    Wir saßen so lange da, dass der Streifen Sonne, der durch das hohe Fenster hereinfiel, einmal quer über den Flügel wanderte – von den höchsten Tönen bis dahin, wo unsere Finger auf den Tasten ruhten.
    »Was bedeutet dein Name?«, fragte James dann. Seine Stirn lag immer noch auf meiner Schulter.
    Beim Klang seiner Stimme fuhr ich zusammen. »Graues Lied der Sehnsucht.«
    James drehte den Kopf und küsste meinen Nacken. Es machte mir Angst, wie er mich küsste, weil es so traurig war. Ich weiß nicht, warum ich das glaubte, doch ich konnte es
fühlen
. Er richtete sich auf und zog mich an

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