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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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bei unserer letzten Begegnung trug er Hemd und Krawatte, aber diesmal sahen seine Sachen ein wenig zerknautscht aus, als würde er sie schon länger tragen. Er sagte kein Wort zu Sullivan, rückte nur einen Stuhl vom Tisch ab und setzte sich mir gegenüber.
    »Hallo, James«, begrüßte er mich.
    Ich sah Sullivan an.
    »Kaffee?«, fragte Sullivan Normandy.
    »Ja.« Normandy nahm eine Tasse entgegen und wandte sich wieder mir zu. Er wirkte riesig, denn die Ellbogen auf der Tischplatte ließen den Tisch winzig erscheinen. »Du musst mir alles über Deirdre Monaghan erzählen, was du weißt.«
    Irgendetwas an der Art, wie er das sagte, irgendeine Annahme hinter seinen Worten, ärgerte mich. Ich hob die Hand. »Sie ist etwa so groß, hat dunkles Haar, graue Augen und in Jeans einen tollen Hintern.«
    »James.« Sullivans Stimme klang warnend. »Das ist nicht der passende Zeitpunkt. Beantworte einfach die Frage.«
    Auch das machte mich wütend. Ich fand es nicht in Ordnung, dass Sullivan jetzt den Lehrer heraushängen ließ, nach allem, was wir durchgemacht hatten. »Warum?«
    Wenn ich gewusst hätte, wie er auf die Frage reagieren würde, hätte ich sie möglicherweise nicht gestellt.
    Zur Antwort zog Sullivan ein schmales Handy aus der Tasche und schob es mir wortlos über den Tisch zu. Als ich ihn fragend anblickte, wies er mit dem Kinn darauf. »Lies die nicht abgeschickten Nachrichten.«
    Ich drückte mich durchs Menü, bis ich den Ordner
Textnachrichten – Entwürfe
fand. Fünfzehn nicht gesendete SMS . Jede einzelne davon an mich. Mein Mund war plötzlich trocken, und ich überflog die Nachrichten.
    Wir können nicht reden wie früher, das fehlt mir.
    Habe noch mehr feen gesehen.
    Luke war hier.
    Es ist nicht alles o.k.
    jemanden getötet
    Sie kommen
    Und schließlich das Schlimmste, denn genau das hatte in der SMS gestanden, die ich vor Schulanfang ihr geschickt hatte:
    Ich liebe dich.
    Lange starrte ich auf das Display, ehe ich langsam das Handy zuschob. Draußen vor dem Fenster sang ein Vogel ein eintöniges, hässliches Lied. Ich bemerkte ein krakeliges P auf meiner linken Hand und die kleine Pause, die ich zwischen dem Ausatmen und dem Einatmen machte.
    Normandy sagte: »Jetzt verstehst du sicher, warum es höchste Zeit ist, sich uns anzuvertrauen.«
    »Nein, wie wäre es umgekehrt?«, fragte ich. Ich hörte, wie tonlos meine Stimme klang, gar nicht nach mir. Dennoch versuchte ich nicht, etwas daran zu ändern, sondern starrte weiter auf das Display. »Wie wäre es, wenn Sie mir endlich sagen, was wir alle hier tun? Hier an der Thornking-Ash, meine ich. Und reden Sie sich nicht raus mit so etwas wie ›Wir geben auf euch acht, damit euch nichts passiert‹. Die Frage lautet: Warum zum Teufel haben Sie uns hierhergeholt, wenn Sie nicht mal wissen, was direkt vor Ihrer Nase geschieht? Sie haben mir ganz am Anfang erzählt, dass irgendetwas mit Dee wäre, und jetzt sitzt sie offensichtlich total in der Scheiße, und Sie hätten etwas dagegen unternehmen …«
    Ich verstummte, denn Normandy sagte etwas. Außerdem merkte ich, dass ich gar nicht wütend auf ihn war. Ich war wütend auf mich selbst.
    »James«, meinte Sullivan. Ich hörte Dees Handy leise über den Tisch gleiten, als er es wieder an sich nahm.
    »Hör zu. Du bist nicht dumm«, sagte Normandy. »Ich dachte, ich hätte mich bei unserem ersten Gespräch klar genug ausgedrückt. Wir – damit meine ich mich und einige weitere Lehrkräfte – haben die Thornking-Ash-Schule gegründet, weil wir erkannt hatten, dass
sie
vorzugsweise Teenager mit einer unglaublichen musikalischen Begabung quälen oder entführen. Wie meinen Sohn.«
    Dunkel erinnerte ich mich daran, damals so etwas gehört zu haben, als ich mich zusammen mit Dee an der Schule beworben hatte. Ich hielt mich gerade noch davon ab, einzuwerfen: »Der sich das Leben genommen hat.« Das klang allzu taktlos, sogar für meine Verhältnisse.
    »Er wurde geraubt«, fuhr Normandy mit besonders ruhiger Stimme fort. »Damals wusste ich noch nichts von
ihnen
. Danach konnte ich nicht zulassen, dass anderen wie ihm auch so etwas zustößt. Also haben wir die Schule gegründet, um gefährdete Schüler ausfindig zu machen und hier gut auf sie aufzupassen.«
    »Und der Dornenkönig?«, fragte ich. »Offensichtlich ist es kein Zufall, dass er direkt hinter der Schule herumläuft, wenn man den Namen dieser Schule bedenkt.«
    »Er ist ein Kanarienvogel«, sagte Normandy mit einem schmallippigen Lächeln, als

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