Mitternachtskinder
sollte diese Erklärung witzig sein oder als wäre sie es früher einmal gewesen. »Ein übernatürlicher Kanarienvogel.«
Ich starrte ihn stumm an.
Er erklärte: »Bergarbeiter haben früher unten in den Minen einen Kanarienvogel gehalten, der ihnen anzeigte, ob der Sauerstoff knapp wurde. Wenn der Kanarienvogel starb, wussten die Arbeiter, dass sie den Schacht sofort verlassen mussten. Cernunnos ist unser Kanarienvogel. Wenn einer unserer Schüler ihn sehen oder hören kann, wissen wir, dass der- oder diejenige besonders anfällig für übernatürliche Übergriffe ist.«
Sullivans Blick bohrte Löcher in meinen Kopf.
»Tja, Ihr System hat offensichtlich wunderbar funktioniert«, bemerkte ich.
Normandy ignorierte den Sarkasmus. »Ja, tatsächlich, das hat es. Wir hatten schon seit Jahren keine nennenswerten Zwischenfälle mit den
Guten Nachbarn
mehr.« Bei den letzten Worten schaute er zu Sullivan, und ich fragte mich, ob er nur von Sullivans Vergangenheit mit Eleanor wusste oder ob etwas anderes dahintersteckte. »Ja, seit einigen Jahren waren wir nichts weiter als eine hervorragende Musikschule. Bis dieses Jahr auf einmal mehr von
ihnen
auf dem Schulgelände auftauchten als in sämtlichen vergangenen Jahren zusammen. Patrick behauptet, das liege daran, dass wir ein Kleeauge bei uns hätten, obwohl ich schon dachte, die gäbe es gar nicht mehr. Und mein Instinkt sagt mir, dass Deirdre dieses Kleeauge ist. Jetzt habe ich dir alles über die Schule erzählt, also kannst du mir vielleicht eines sagen: Habe ich recht?«
Es gab keinen Grund zu lügen. »Ja. Ich glaube, bei ihr hat das alles diesen Sommer angefangen.«
Sullivan und Normandy wechselten einen Blick. »Also hat sie jede Einzelne von
ihnen
zu unserer Schule gelockt«, meinte Normandy.
»Was bedeutet das für heute Nacht? Sind
sie
zufrieden, jetzt, da sie Deirdre haben? Oder ist sie ein Teil von etwas Größerem?«, fragte Sullivan.
»Größer«, sagte ich, wie aus der Pistole geschossen. Nuala erwähnte ich aber nicht, denn ich glaubte nicht, dass Normandy von ihr wusste.
Sullivan erklärte: »Ich finde, wir sollten die gesamte Lehrerschaft benachrichtigen. Es gibt Möglichkeiten, um sie zurückzuholen, aber wir müssen gut vorbereitet sein.«
»Das wird ihnen nicht gefallen. Es ist Jahre her, dass wir so etwas tun mussten.« Normandy stützte sich auf dem Tisch ab und stemmte sich auf die Füße. »Patrick, kommen Sie mit.«
Sullivan zögerte und ließ Normandy allein vorangehen. Nachdem der außer Hörweite war, drehte Sullivan sich zu mir um. »Halte Nuala von allem fern und versuche bitte, keine Dummheiten zu machen. Bleibt einfach drinnen. Vielleicht in der Brigid Hall. Wenn wir uns vorher nicht mehr sehen, treffen wir uns am Brunnen, sobald die Feuer entzündet werden.«
Als Einziger saß ich noch am Tisch, und eine Gänsehaut bedeckte meine Arme. »Was ist mit Dee?«, fragte ich.
»Wir kümmern uns darum. Kümmere du dich um Nuala.«
Letzteres hätte er mir nicht zu sagen brauchen.
[home]
Nuala
Schlaf und Tod sind beinah gleich
Aus beiden kehre ich zurück.
Aus dem Schlaf, indem ich erwache
Und aus dem Tod mit Worten.
Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
J ames schob die rote Tür der Brigid Hall auf und trat beiseite, um mich vorzulassen.
»Nicht doch«, meinte ich. »Ladies first.«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, der eine willkommene Abwechslung von seiner gequälten Miene darstellte. »Charmant.« Trotzdem ging er vor mir hinein. Die Klappstühle standen genauso wie beim letzten Mal, als wir hier gewesen waren. Mit ausgebreiteten Armen lief James den Gang zwischen den Reihen entlang.
»Willkommen, meine Damen und Herren«, sagte er, und seine Züge wurden vom schwachen Licht, das durch die Milchglasscheiben fiel, schmeichelhaft beleuchtet. Als er weiterging, stellte ich mir einen Umhang vor, der hinter ihm herflatterte. »Ich bin Ian Everett Johan Campbell, der dritte und letzte.«
»Der Scheinwerfer folgt dir über den Gang«, unterbrach ich und lief ihm nach.
»Ich hoffe, Ihre Aufmerksamkeit eine Weile fesseln zu können«, fuhr James fort. Er tat so, als hielte er kurz inne, um einer Dame, die am Gang saß, die Hand zu küssen. »Ich muss Ihnen sagen, dass das, was Sie heute Abend sehen werden, absolut real ist.«
»Spring die Treppe hinauf«, wies ich ihn an. »Die Musik setzt ein, sobald du die unterste Stufe betrittst.«
James sprang die Stufen zur Bühne hinauf, und die
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