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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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war, als er dem Tod nachgelaufen war.
    Cernunnos trat dicht vor mich. Die Enden seines Geweihs streiften die zarten Blätterranken über uns, und ich kam mir in seinem Schatten jung und machtlos vor. »Tochter, verstehst du, was ich dir sage?«
    Ich nickte kaum merklich.
    »Trage Schwarz zu deinem Herbstfeuer. Du und der Pfeifer ebenfalls. Bedeckt eure Körper mit schwarzen Kleidern, damit meine hungrigen Toten euch nicht sehen.« Cernunnos legte James eine seiner ganz normal aussehenden Hände auf die Schultern, und James fuhr zusammen, als hätte er vergessen, dass wir auch noch hier waren.
    »James Antioch Morgan«, sprach der König der Toten, und als er James’ Namen sagte, klang es wie Musik. »Du wirst dich vor eine Wahl gestellt sehen. Triff die richtige.«
    James’ Augen glitzerten in der Dunkelheit. »Welche ist die richtige Wahl?«
    »Die schmerzliche«, antwortete Cernunnos.

[home]
    James
    D er Tod riecht wie ein Geburtstagskuchen. Das war jedenfalls der Schluss, zu dem ich kam, denn am Morgen nach unserer Begegnung mit Cernunnos stanken Nuala und ich. Nicht direkt nach Geburtstagskuchen, aber nach Kerzen – wie es riecht, wenn man sie ausgeblasen hat. So stanken wir, unsere Kleidung und unser Haar.
    »James Morgan, ich werde deinetwegen nicht meinen Job verlieren.
Wach auf.
«
    Das Erste, was ich sah, nachdem ich tot gewesen war, war Sullivan. Sein Gesicht erschien als Silhouette vor einem hellen, wolkenverhangenen Himmel. Das Erste, was ich spürte, war meine brennende Wange.
    »Haben Sie mich gerade geschlagen?«, fuhr ich auf.
    »Bist du gerade gestorben?«, gab Sullivan zurück. »Ich versuche schon seit fünf Minuten, dich aufzuwecken. Die Ohrfeige kam daher, dass mir der Geduldsfaden gerissen ist.«
    »Nuala«, sagte ich und setzte mich hastig auf.
    »Es geht ihr gut«, meinte Sullivan mit vorwurfsvoller Stimme, und ich sah sie ein paar Schritte entfernt sitzen. »Sie war nicht diejenige, die den Tod anziehend fand.«
    Diesen Teil ignorierte ich. »Warum sitzen wir alle auf dem Brunnen?«
    Ich blickte am Hintern des Satyrs vorbei und entdeckte Paul, der auf der anderen Seite saß und einen Donut aß.
    »Würdet ihr mir freundlicherweise verraten, wo ihr die letzten zwei Tage gesteckt habt?«, verlangte Sullivan. »Paul, möchtest du vielleicht anfangen, da du gerade mein Frühstück isst?«
    Nuala und ich wechselten einen Blick. Ich sagte: »Paul war auch bei ihm? Moment mal, das war vor
zwei
Tagen?«
    »Heute ist Halloween!«, erklärte Sullivan. »Der einunddreißigste Oktober, sieben Uhr einundvierzig.« Als wir ihn alle anstarrten, fügte er hinzu: »Ich würde es euch ja gern noch genauer sagen, aber meine Uhr zeigt leider keine Pikosekunden an.«
    Eigentlich rechnete ich damit, dass Nualas Gesichtsausdruck sich nach dem Wort »Halloween« veränderte, doch nichts geschah.
    Stattdessen fragte sie nur: »Werden auf dem Schulgelände Herbstfeuer veranstaltet?«
    Sullivan nickte. »Die Lehrer zünden sie an, sobald es dunkel ist. Mehrere große Feuer.« Er kniff die Augen zusammen. »Was hat er gesagt? Cernunnos, meine ich?«
    Ich wartete darauf, dass Paul oder Nuala etwas erwiderten, aber alle sahen mich an, als sei ich hier der Anführer. Also berichtete ich, was passiert war, während Sullivan sich mit der Zunge über die Zähne fuhr.
    »Paul, was hat er dir gesagt?«, wollte Sullivan wissen.
    Paul schluckte den Rest vom Donut hinunter. »Er hat mir Sachen gezeigt, über die ich nicht sprechen darf.«
    Stirnrunzelnd schaute Sullivan ihn an, doch Paul schwieg.
    »Geht euch waschen«, ordnete Sullivan an. »Ihr stinkt alle drei.« Dann fügte er hinzu: »Und James, dich brauche ich danach wieder. Normandy will dich sprechen.«
    »Klar«, sagte ich.
    Halloween. Es war so weit. Ich wünschte, ich könnte irgendwie verschwinden.

[home]
    James
    I ch hatte angenommen, dass unser Gespräch in Normandys Büro stattfinden würde. Stattdessen kochte Sullivan jedoch in seinem Zimmer eine riesige Kanne Kaffee und setzte mich mit einem Becher an seinen Küchentisch. Der Kaffee war sehr schwarz, und das merkte ich auch an.
    »Wir müssen heute Nacht beide wach bleiben«, meinte Sullivan. »Die Herbstfeuer werden nicht vor neun angezündet.«
    Als er Herbstfeuer sagte, krampfte sich mein Magen zusammen. Mir blieb nur eine Sekunde Zeit, mich über dieses Gefühl zu wundern – wann war ich eigentlich zuletzt nervös gewesen? –, denn schon schob Gregory Normandy die Tür auf und betrat den Raum. Wie

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