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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Ich versuchte, nicht darauf zu achten. »Links abgehen.«
    Natürlich. Der Ausgang hinter der Bühne. Ich nahm Dee bei der Hand und zog sie die Treppe hinauf. Dabei ging ich seitlich, damit ich Eleanor weiter im Auge behalten konnte. Cernunnos’ Gesang klang inzwischen betäubend laut in meinen Ohren. Es war Zeit, hier zu verschwinden.
    »Das würde ich nicht tun«, fauchte Delia und starrte uns an. »Das Ding hier hat noch eine Menge Kugeln. Und im Augenblick scheue ich nicht davor zurück, jemanden zu erschießen.«
    Sanft faltete Eleanor die Hände vor dem Körper und sagte kalt: »
Noch
jemanden.« Sie drehte sich um, schaute nach etwas im Gang zwischen den Stühlen und fügte hinzu: »Patrick, zieh dir den Umhang über den Kopf.«
    Mir blieb gerade noch Zeit, zu begreifen, warum sie ihn dazu aufforderte, als auch schon die Hintertür aufflog.
    Einen Moment lang herrschte nur Stille und schiere, absolute Kälte. Unser aller Atem bildete Wölkchen vor unseren Gesichtern.
    Und dann strömten die Toten herein. Sie rannten an den Wänden entlang, flatterten um die Scheinwerfer wie Motten und warfen verrückte Schatten auf den Boden und die Stühle. Sie stanken nach Schwefel und feuchter Erde. Ein Getöse begleitete sie: schrille Schreie, gurgelnde Rufe, kehliger Gesang. Die Toten prallten von den Feen ab wie von Steinen, doch als sie Delia sahen, nahmen ihre Laute einen drängenderen Klang an.
    Delia wirbelte herum und gab einen Schuss ab, kurz bevor sie über sie herfielen. Sie verschwand unter dem Gewicht ungreifbarer Dunkelheit, und wenn sie noch einen Laut von sich gab, so wurde er vom Kreischen der angreifenden Horde übertönt.
    Und dann bemerkten die Toten uns.
    »Dee«, sagte ich. »Tu etwas. Ich weiß, dass du es kannst.«
    Mit weit aufgerissenen Augen schaute Dee mich an. Ich erkannte diesen Blick. Als würde ihr System eine Alarmmeldung aufblinken lassen, die mir sagte:
Überlastung. Überlastung. Überlastung.
Als ich das sah, wurde mir klar, dass sie schon lange auf diesen Moment hingearbeitet hatte – den Moment, in dem sie sich vollkommen aufgab. Ich fragte mich, warum ich es erst jetzt bemerkte, wo es zu spät war.
    Die Toten hasteten über die Stühle, krochen die Fenster empor, bohrten ihre Klauen in den Bühnenrand. Delia war nur noch ein raschelnder, strampelnder Haufen auf dem Boden. Ich packte Dee bei den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Dee. Tu es für mich. Du
schuldest
mir was. Das weißt du genau.«
    Dee schaute mich an, und ich konnte beinahe sehen, wie ihr Gehirn meine Worte verarbeitete. Ich wartete darauf, dass sie etwas
unternahm –
dass sie die Toten in die hinterste Ecke des Raums schleuderte, dass sie den Zorn des Himmels herabrief, was auch immer.
    Doch sie nahm nur meine Hände und trat einen Schritt zurück.
    Als die Toten die Bühne enterten, blickte ich hinab und entdeckte, dass wir mit diesem einen Schritt in den dunklen Kreis getreten waren, der Eleanors Gefährten umgab. Die Toten wirbelten um diesen Kreis herum, zischten an uns vorbei und bildeten seltsame Formen, die ich so noch nie gesehen hatte. Dee zog sacht an meinen Händen, damit ich noch ein Stückchen nach vorn trat, weiter weg vom staubigen Rand des Kreises.
    Eleanors Gefährte zu unseren Füßen lag ganz still. Seine Augen waren offen und glasig. Ich hielt ihn für tot, doch dann blinzelte er. Sehr langsam.
    Es gab nichts mehr auf der Welt außer diesem dunklen Kreis. Einwohner: drei. Drei Menschen, jeder auf eine andere Art gebrochen.
    Unsere Welt war still.
    Die Toten umkreisten ihre Grenze, kamen nicht näher, wichen aber auch nicht zurück. Sie waren so düster wie eine Gewitterwolke.
    Cernunnos trat aus ihrer Mitte hervor.

[home]
    James
    E leanor-vom-Himmel, du hast nicht die Wahrheit gesprochen.« Cernunnos ging am Rand unseres Kreises entlang. Wie die Toten kam auch er nicht näher, rückte aber auch nicht weiter ab. Er war in dieser Umgebung irgendwie noch beängstigender – er stand auf der Bühne, auf der ich meinen Text geübt hatte, ging an der Klavierbank vorbei, auf der Nuala und ich gesessen hatten. Er gehörte nicht hierher. Cernunnos wandte den Kopf mit dem großen Geweih nach unserem Kreis um, und ich erschrak, als ich zum ersten Mal seine Augen sah. Die Iris war leer und schwarz, umgeben von einem schwelenden roten Kreis, und Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart waren darin vermischt. In diese Augen zu schauen, das war wie zu ertrinken. Wie zu fallen. Wie ein Blick in den

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