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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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hast
genug
für mich getan.« Sie blickte zu Cernunnos auf. »Nehmt mich an seiner Stelle.«
    Cernunnos schüttelte den Kopf. »Nein, Kleeauge. Der Pfeifer hat die Wahrheit über dich gesagt.«
    »Dann nehmt mich«, sagte Sullivan. Ich sah ihn langsam zu uns in den Kreis schlurfen, die Hand immer noch an den Bauch gedrückt und mit Blut beschmiert.
    »Die Anzahl im Kreis kann sich nicht ändern«, erklärte Cernunnos.
    »Nicht, ehe ein Nachfolger erwählt ist«, erwiderte Sullivan. Hastig trat ich über den Gefährten hinweg, um Sullivan zu stützen. Ich rechnete damit, dass er meine Hilfe zurückweisen würde, doch er lehnte sich schwer auf meine Schulter. Bei der Bewegung strömte mehr Blut zwischen seinen Fingern hervor und rann über den eisernen Ring. »Ihr habt gewählt, und nun bin ich hier. Wenn Ihr einen Nachfolger ausgewählt habt, könnt Ihr es Euch doch noch einmal anders überlegen – wer wollte Euch das verbieten? Also ändert Eure Entscheidung. Nehmt mich.«
    Die rotumrandeten Augen musterten uns beide. »Weshalb sollte ich meine Entscheidung ändern, Paladin?«
    »Weil ich alles bin, was James ist, aber ich sterbe.«
    »Gibt es jemanden unter den Toten, der sich für dich verbürgt?«
    Einen langen Augenblick zögerte Sullivan, doch dann nickte er. Außerhalb des Kreises erhob sich langsam eine dunkle, gekrümmte Gestalt, die noch immer knisterte vor Wut. Auf der anderen Seite des Gefährten verzog Dee das Gesicht.
    »Ich verbürge mich für ihn«, fauchte Delia. »Er hat mir meinen Schutz geraubt. Ich bin durch seine Hand gestorben.«
    Mit zitternder Hand griff Sullivan in die Hosentasche und holte drei Zweige heraus, die mit rotem Band zusammengebunden waren, genau wie das Bündel, das er mir gegeben hatte. Er drehte es vor Cernunnos hin und her, als wollte er beweisen, dass es tatsächlich Delia gehört hatte.
    Ich wusste nicht so recht, ob ich wollte, dass Cernunnos es sich anders überlegte. Ich wollte nicht, dass Sullivan starb, aber
das hier
wünschte ich ihm auch nicht. Ich wünschte mir, dass alles vorbei wäre und er ganz normal weiterleben könnte, als hätten die Feen ihn nie angerührt. Er sollte der lebende Beweis sein, dass das möglich war.
    Neben mir zuckte Sullivan krampfhaft, taumelte und stützte sich auf mich. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten, und wandte das Gesicht dem Dornenkönig zu. »Cernunnos. Bitte. Tut etwas.«
    »Paladin«, sagte Cernunnos zu Sullivan. »Du bist mein Nachfolger. Ich ernenne dich zum König der Toten. Du behütest die Toten, und die Toten behüten dich. Du …«
    Während Cernunnos sprach, zog Dee mich rückwärts weg von Sullivan. Ich musste einen kleinen Satz machen, um nicht auf Karre zu treten.
    »Lass mich los«, fuhr ich sie wütend an, doch dann entdeckte ich, warum sie mich wegzog. Sullivan wurde dunkel, sog Licht in sich auf. Er streckte die Arme zu beiden Seiten aus, und sein dunkler Umhang wirbelte auf und breitete sich um ihn aus. Er senkte den Kopf. Kränklich hörte ich Cernunnos’ Lied in meinem Kopf heulen, und es drehte mir den Magen um. Ich wollte nicht sehen, wie ein Geweih aus Sullivans Haar spross.
    Doch das geschah nicht. Wir alle wichen immer weiter vor ihm zurück, sogar Cernunnos. Wir gaben ihm mehr Raum und beobachteten, wie er da mit ausgebreiteten Armen und gesenktem Kopf stand.
    Dann, von einem Augenblick zum anderen, breiteten sich gewaltige dunkle Schwingen hinter ihm aus. Er hob den Kopf und öffnete die Augen.
    Das waren immer noch seine Augen.
    Ich stieß die Luft aus, die ich unbewusst viel zu lange angehalten hatte.
    Auf Sullivans anderer Seite brach Cernunnos den Kreis, indem er mit dem Fuß etwas Asche beiseiteschob. In der Sekunde, als der Kreis geöffnet war, stürzten sich die Toten auf uns. Jeder dunkle Schemen im Saal kroch, flog oder wankte auf die Lücke im Kreis zu, und Delia führte alle an.
    Sullivan sagte sehr leise: »Halt.«
    Und sie hielten inne.
    Er wandte sich mir zu. Ich bemühte mich, nicht auf die Flügel zu starren. Abgefahren. »James«, sagte er mit seltsamer, rauher Stimme. »Du und Deirdre kehrt zu den Herbstfeuern zurück. Niemand wird euch anrühren.«
    Bei den letzten Worten sah er Eleanor an. Ihr Mund bildete ein kleines, umgekehrtes U, so fest presste sie die Lippen zusammen. »Wie Ihr befehlt.«
    Hinter Sullivan stieg Cernunnos die Treppe hinunter und ging durch den Saal auf die Tür zu. Er hatte seine Bürde abgelegt, dachte ich, für ihn war hier Schluss. Wer konnte

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