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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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auch zu den unmöglichsten Tageszeiten, zum Beispiel mitten im Unterricht oder ganz spät am Nachmittag, so dass er dann hellwach war, wenn der Rest der Welt schlief. Seine lässige Schlaf-wann-du-willst-Haltung hatte seinen dämlichen Zimmerkameraden Mondgesicht endgültig von James’ Selbstsicherheit überzeugt, aber ich erkannte, wie James sich damit selbst betrog.
    Ein kühler Tag ging zu Ende, und James schlief gerade eng auf dem Bett zusammengerollt, während Mondgesicht irgendwo mit irgendetwas beschäftigt war, das mit einer Oboe zu tun hatte. Ich saß am Fußende von James’ Bett und sah ihm beim Schlafen zu. James schlief so, wie er alles andere tat: intensiv, mit Leib und Seele, als sei alles ein Wettbewerb, und er könne sich keinen Augenblick der Unachtsamkeit erlauben. Er hatte die vollgekritzelten Hände vors Gesicht gezogen und die Handgelenke so mit den Innenseiten zueinander verdreht, dass sie einen seltsamen, schönen Knoten bildeten. Seine Fingerknöchel waren weiß.
    Ich rutschte ein Stück näher und hielt eine Hand ein paar Fingerbreit über seinen nackten Arm. Unter meinen Fingern bildete sich als Reaktion auf meine Nähe eine Gänsehaut, und ich bleckte die Zähne, denn ich musste unwillkürlich lächeln.
    James erschauerte, wachte jedoch nicht auf. Er hatte irgendeinen Traum vom Fliegen – typisch. Bedeutete das nicht, dass man ein selbstverliebter kleiner Scheißer war? Ich glaubte mich zu erinnern, das mal irgendwo gelesen zu haben.
    Nun ja. Ich konnte ihm einen Traum schenken, den er nicht wieder vergessen würde. Ich rutschte auf die andere Seite des Bettes, tanzte auf der Grenze zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, um ihn nicht zu wecken, und blickte in sein finster verzogenes Gesicht.
Eigentlich
hätte ich ihm am liebsten einen Traum darüber eingegeben, wie er sich versehentlich vor einem Haufen Leute in die Hose pinkelte, oder über sonst etwas, bei dem ihm die Eier auf Erbsengröße schrumpfen würden. Bedauerlicherweise besaß ich nicht die Gabe, peinliche Träume zu erzeugen. Mir fiel es am leichtesten, jemandem einen schmerzlich schönen Traum zu schicken – etwas so Atemberaubendes, dass der Träumer es beim Aufwachen entsetzlich vermissen würde. Auf die harte Tour hatte ich gelernt, dass weniger dabei meist mehr war – einer meiner ersten Schüler hatte sich das Leben genommen, nachdem er aus einer solchen Kreation erwacht war. Also ehrlich. Manche Leute hielten aber auch gar nichts aus.
    Vorsichtig legte ich die Hände auf James’ Kopf und streichelte ihm übers Haar. Er zitterte unter meiner Berührung, ob vor Kälte oder weil er wusste, was nun kam, konnte ich nicht sagen. Ich fügte mich in seinen Traum ein, wo ich, wie immer in letzter Zeit, widerlich umwerfend aussah, und rief seinen Namen.
    Im Traum fuhr James zusammen. »Dee?« Seine Stimme klang flehentlich.
    Allmählich fing ich an, dieses Mädchen zu hassen.
    Ich hörte auf, ihn zu streicheln, und gab ihm stattdessen einen scharfen Klaps auf den Kopf, wobei ich so schnell sichtbar wurde, dass mir der Schädel dröhnte. »Wach auf, du Wurm.«
    James verzog das Gesicht. Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: »Nuala.«
    Finster starrte ich ihn an. »Auch bekannt als das einzige weibliche Wesen, das sich je in dein Bett verirren wird, du Loser.«
    Er schlug sich die Hände vors Gesicht. »Gott hab Erbarmen, mein Kopf tut furchtbar weh. Töte mich gleich, Ausgeburt des Bösen, und erlöse mich von meinen Qualen.«
    Ich drückte einen Finger an seine Kehle, gerade so fest, dass er mich quasi um Erlaubnis fragen musste, wenn er schlucken wollte. »Bring mich nicht auf Ideen.«
    James rollte sich unter meinem Finger weg und drückte das Gesicht in sein blaukariertes Kopfkissen. Seine Stimme klang gedämpft. »Du hast so eine gewinnende Art, Nuala. Sag, wie lange beglückst du Gottes schöne Erde schon mit deiner wahrhaft strahlenden Persönlichkeit?« In seinem Kopf sah ich, wie er riet – hundert Jahre, zweihundert Jahre, tausend Jahre. Er dachte, ich sei wie die Übrigen.
    »Sechzehn«, erwiderte ich barsch. »Hast du noch nie davon gehört, dass es nicht nett ist, so etwas zu fragen?«
    James wandte den Kopf, so dass er mich ansehen konnte. Er hatte die Brauen gerunzelt. »Ich bin kein sonderlich netter Mensch. Sechzehn Jahre kommen mir nicht besonders lange vor. Wir sprechen doch von Jahren und nicht von Jahrhunderten, oder?«
    Eigentlich brauchte ich ihm gar nichts zu verraten, tat es aber trotzdem.

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