Mitternachtskinder
Suche nach dem Lied der gehörnten Männergestalt in die Hügel hinauslief, kam ich näher heran als je zuvor. Ich kam ihm so nahe, dass ich jedes einzelne Ende seines Geweihs als Silhouette vor einem blutroten Sonnenuntergang sehen konnte. So nahe, dass ich den dunklen Stoff seines Umhangs sehen konnte, der das Gras hinter ihm glatt strich. So nahe, dass ich die Melodie des Liedes in all ihrer qualvollen Schönheit besser hören konnte als vorher.
Außerdem konnte ich jedes Wort hören, das er sang, obwohl ich die Bedeutung immer noch nicht verstand.
Ich wusste nur, dass ich es wollte.
Nachdem er fort war, brauchte ich lange, bis ich ins Wohnheim zurückkehren konnte. In der gewöhnlichen Nacht, die er hinterlassen hatte, saß ich auf dem Hügel, während der Wind im hohen Gras um mich herum flüsterte. Ich starrte zu den Sternen auf und wollte mehr als das, was ich war, mehr als das, was die Welt war, und ich – wollte einfach nur.
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James
D a Sullivan mir keinen Verweis gegeben hatte, weil ich verschlafen hatte, glaubte ich, weiteren Strafen entgangen zu sein. Offenbar hatte ich mich getäuscht. Am nächsten Tag vor dem Unterricht fing Sullivan mich auf dem Flur vor dem Klassenzimmer ab.
»Ich gebe dir die Stunde frei, James«, sagte er.
Kaffeeduft kam aus dem Zimmer. »Dann werde ich
Hamlet
verpassen.«
»Das hat dir in der letzten Stunde auch keinen Kummer bereitet.«
»O Gott, geht es etwa immer noch um die letzte Stunde?«
Sullivan warf mir einen Blick zu, mit dem man Spiegeleier hätte braten können, und ließ meinen Arm los. »Nur indirekt. Du bekommst heute frei, weil du einen Termin bei Gregory Normandy hast.«
Das letzte Mal hatte ich den Namen Gregory Normandy in den Aufnahmeunterlagen gesehen, die die Schule mir geschickt hatte – auf einer Visitenkarte mit dem Wort »Schulleiter« darunter. Ich fühlte mich wie eine Katze, die zu einer vollen Badewanne getragen wird. »Kann ich nicht einfach eine Million Mal schreiben ›Ich werde nie wieder den Unterricht versäumen‹?«
Sullivan schüttelte den Kopf. »Welch eine Verschwendung deiner hochbegabten Finger, James. Geh zu Normandy. Er erwartet dich. Sein Büro ist in der Verwaltung. Und versuche bitte, deine sarkastischen Bemerkungen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Er steht auf deiner Seite.«
Eigentlich hatte ich mich schon auf
Hamlet
gefreut. Ich fand es ziemlich unfair von Sullivan, mich noch vor dem Mittagessen einer Autoritätsperson auszuliefern.
Ich fand Gregory Normandys Büro in McComas Hall, einem kleinen, achteckigen Gebäude mit Fenstern an sämtlichen Seiten. Drinnen quietschten meine Turnschuhe auf dem Parkett der achteckigen Eingangshalle. Acht Männer und Frauen in diversen Stadien des Stirnrunzelns und Haarausfalls blickten von den Porträts an den Wänden auf mich herab. Vermutlich die Gründer dieses stolzen Instituts. Es roch nach Blumen und Pfefferminz, obwohl ich weder von dem einen noch von dem anderen irgendetwas sehen konnte.
Ich las die braunen Kunststoffschilder an sieben Türen, bis ich Normandys Namen fand. Ich klopfte an.
»Die Tür ist offen.«
Ich schob sie ganz auf und blinzelte ins Sonnenlicht. Normandys Büro lag nach Osten hin, und die Morgensonne in den großen Fenstern hinter seinem Schreibtisch blendete mich. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, entdeckte ich Gregory Normandy an einem Schreibtisch mit Stapeln von Papier und zwei Vasen mit Gänseblümchen. Vor allem wegen dieser Gänseblümchen war ich ein wenig überrascht, als ich feststellte, dass sein Kopf fast kahl rasiert war. Seine Arme und die Brust wirkten außerdem so muskulös, als könnte er mich mühelos zu Brei schlagen. Selbst in einem edlen Hemd mit Krawatte sah er nicht unbedingt
schulleiterisch
aus – es sei denn, es ginge um eine Ausbildung zum Preisboxer.
Normandys Blick blieb dicht über meinem Ohr hängen. Ich brauchte einen Moment, bis mir klarwurde, dass er die Narbe betrachtete. »Du musst James Morgan sein. Freut mich, dich persönlich kennenzulernen. Setz dich doch.«
Ich nahm ihm gegenüber Platz und versank prompt fünf Zentimeter tief in dem dicken Kissen. Durch das Fenster hinter Normandy konnte ich den Satyrbrunnen sehen. »Danke«, sagte ich vorsichtig.
»Wie findest du es bei uns hier an der Thornking-Ash?«
»Ich weiß die Möglichkeit sehr zu schätzen, jeden Abend Pizza zu bestellen«, antwortete ich.
Ich war mir nicht sicher, ob mir Normandys Miene gefiel. Es war
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