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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ebenso klar verstand wie seine Worte, denn er flüsterte so leise, dass es nicht zu hören war: »Was singt er da?«
    Ich übersetzte – mit gedämpfter Stimme, nur für seine Ohren:
    Ich behüte die Toten, und die Toten behüten mich.
    Wir sind kalt und dunkel, wir sind eins und viele,
    wir warten und wir warten, so singen die Toten.
    Und so singe ich: Wachset, erhebet euch, folget mir.
    Und so singe ich: Die ihr nicht Himmel noch Hölle angehört,
    wachset, erhebet euch, folget mir.
    Ungetaufte, Ungesegnete, kommt zu mir, die ihr dort flattert in den Zweigen alter Eichen.
    Jämmerliche Halbdämonen, die ihr euch in der Erde krümmt,
    gefangen durch meine Macht, erhebet euch, folget mir.
    Euer Tag ist nah.
    Hört meine Stimme. Ein Festmahl sollt ihr haben.
    James erschauerte, zog den Kopf ein und bedeckte ihn mit den Händen. So blieb er hocken, und seine Fingerknöchel schimmerten weiß an seinem Hinterkopf, bis das Lied des Dornenkönigs verklungen und die Sonne versunken war. Wir waren wieder allein in der Dunkelheit. Dann richtete er sich langsam auf, und die Art, wie er mich ansah, sagte mir, dass sich zwischen uns etwas verändert hatte. Aber nicht einmal ich wusste, was.
    »Hast du je das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren könnte?«, fragte James, aber im Grunde war das keine Frage.
    Ich richtete mich auf. »Ich bin das Schreckliche, das passiert.«
    James zog sich die Kapuze über den Kopf und stand auf. Schließlich – o Wunder – streckte er die Hand aus, um mir aufzuhelfen, als sei ich ein Mensch. Seine Stimme klang rauh. »Wie du schon sagtest: Es gibt schlimmere Wesen als dich.«
    Neue Textnachricht
    An:
    James
     
    Es sind die daoine sidhe. Die, bei denen luke lebt. Ich habe 1 von ihnen erkannt, brendan. Ich weiß nicht, was er will. Sie haben vor dem klassenzimmer auf mich gewartet. Er hat mich gefragt, ob ich luke wiedersehen will.
     
    Absender:
    Dee
     
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    Nachricht wird 30  Tage gespeichert.

[home]
    James
    W ashington D.C. war tausend Kilometer von der Thornking-Ash entfernt. Okay, nicht in echten Kilometern. Aber es fühlte sich so an. Der Bus, in dem wir zum Marion Theater gefahren wurden, kam mir vor wie ein Raumschiff – und es hatte uns von einem abgelegenen Planeten voller Herbstlaub zu einem betonierten Mond geflogen, dessen Oberfläche nur hier und da von gezielt plazierten Bäumen aufgelockert wurde und gänzlich von Aliens in Anzug und Krawatte bevölkert war.
    Paul saß neben mir auf dem Fensterplatz, damit ihm nicht speiübel wurde, während ich Kugelschreiber auseinandernahm und die Einzelteile auf einem Notizbuch auf meinem Schoß balancierte. Irgendwo weit vorn im Bus saß Dee. Der Großteil meines Verstandes war bei ihr.
    Draußen fiel die Nachmittagssonne schräg zwischen die Gebäude der Hauptstadt und schaffte es hier und da, einen schmalen Streifen bis auf den Boden zu werfen. Dort wo sie die Spitzen der Hochhäuser küsste, glühte das Licht blutrot. Hunderte von Menschen bewegten sich auf den Gehsteigen – Touristen, Geschäftsleute, arme Leute, die hungrig oder missgünstig oder erschöpft in den Bus zu schauen schienen. Sie alle wirkten auf mich sehr einsam. Ganz allein in einem Meer von Menschen.
    Neben mir erklärte Paul mit rauher Stimme: »Ich will endlich mal besoffen sein.« Er sagte alles Mögliche auf diese nachdenkliche Art, aber das war mal eine Abwechslung vom üblichen Repertoire. Wenn man an der Schnur im Rücken zog, sagte die Paul-Puppe normalerweise so etwas wie »Ich verstehe nicht, was er damit meint«, während sie in ein offenes Schulbuch oder auf einen Notizblock schaute. Oder »Ich habe es satt, dass niemand die Nuancen der Oboe bemerkt, Mann«. Es gibt auch nur sehr wenige Menschen, die die Feinheiten des Dudelsacks erkennen, und wir hätten durchaus eine mitfühlende Unterhaltung führen können, wenn die Oboe nicht so ein beschissenes Instrument wäre.
    Ich wandte den Blick von den Leuten draußen den Stiften auf meinem Notizbuch zu. Die parallel geparkten Stiftteile wackelten ein bisschen, als der Bus an einer Ampel anfuhr. »Besoffen klingt so krass. ›Angeheitert‹ oder ›trunken‹ ist romantischer.«
    »Mann, wenn ich mich nicht bald besaufe, habe ich vielleicht nie mehr die Chance dazu.« Paul musterte meinen Schoß. Er reichte mir einen Kugelschreiber aus seinem Rucksack, und ich nahm auch den auseinander und fügte die Bestandteile

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