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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Verächtlich erklärte ich: »Nicht Jahrhunderte.«
    James rieb das Gesicht an seinem Kissen, als könnte er sich die Schläfrigkeit abwischen. Dann sah er mich wieder an und zog eine Augenbraue hoch. Sein Blick blieb auf mein Gesicht gerichtet, aber seine Miene war eindeutig anzüglich, als er sagte: »Im Vergleich zu Menschen, äh,
entwickeln
Feen sich wohl viel schneller.«
    Ich glitt vom Bett und hockte mich davor, so dass ich ihm gerade und aus wenigen Zentimetern Abstand in die Augen schaute. »Möchtest du eine bezaubernde Gutenachtgeschichte hören, Mensch?«
    »Ist sie umsonst?«
    Mit zusammengebissenen Zähnen fauchte ich ihn an.
    Er gähnte und machte eine Geste, die so aussah, als sei es allein meine Sache, was ich tat und was nicht.
    »Es war einmal, vor sechzehn Jahren, eine Fee, die in Virginia erschien. Sie war vollkommen
entwickelt,
hatte aber nichts im Hirn. Sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, wie sie dorthin gekommen war, nur an irgendein Feuer. Sie ging fröhlich ihres Weges, begegnete anderen Feen und fand ziemlich schnell heraus, dass ihr Dasein wie das der anderen Feen unendlich war. Und dass sie, im Gegensatz zu anderen Feen, alle sechzehn Jahre an Halloween komplett verbrannt wird und dann auf ach so magische Weise wieder erscheint – ohne Erinnerung und brandneu. So lebt sie dann glücklich bis ans beschissene Ende der nächsten sechzehn Jahre. Punkt.«
    Ich wandte das Gesicht ab. So viel hatte ich nicht sagen wollen.
    Nach langem Schweigen sagte James: »Du hast sie ›Feen‹ genannt.«
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das gewiss nicht.
»Und?«
    »Und ich dachte, sie – du – ihr hasst es, so genannt zu werden.« James setzte sich auf. »Ich dachte, wir sollten euch mit reizenden Euphemismen bezeichnen wie ›das schöne Volk‹ oder ›er, dessen Name nicht genannt werden darf‹. Scheiße, ich glaube, da bin ich mit den Genres etwas durcheinandergeraten.«
    Ich sprang auf, stürmte rastlos in dem kleinen Zimmer umher und suchte nach etwas Schwerem oder Spitzem, das ich ihm an den Kopf werfen konnte. »Tja, ich bin eigentlich keine von
denen,
oder? Egal.
Scheiß
egal. Warum habe ich dir das überhaupt erzählt? Du bist viel zu ichbezogen, um dich einen feuchten Dreck um irgendjemanden außer dir selbst zu scheren.«
    »Nuala.« James wurde nicht laut, aber die Intensität seiner Stimme veränderte sich so, dass er ebenso gut hätte schreien können. »Jetzt will ich
dir
mal eine nette Gutenachtgeschichte erzählen. Vor knapp zwei Monaten bin ich aus dem Krankenhaus gekommen. Ich habe den Sommer damit verbracht, den Kopf wieder zusammengezimmert und die Lunge geflickt zu bekommen.« Mein Blick huschte zu der Narbe über seinem Ohr, die noch neu war und kaum von seinem kurzen Haar verborgen wurde, und meine Gedanken richteten sich auf die bedeutungslose Narbe an meinem Hüftknochen – für James war sie nicht bedeutungslos, denn sonst wäre sie nicht da gewesen.
    James fuhr fort: »
Sie
haben mein Auto zerstört, mein
Wahnsinns
auto, an dem ich jeden Sommer meines Teenagerlebens gearbeitet habe, bis es
perfekt
war. Sie haben das Leben meiner besten Freundin ruiniert, mich beinahe umgebracht, und wir haben dabei nichts gewonnen außer Narben und nun
dich
an meinem Bett.«
    Ich starrte ihn an.
    Er stand auf, sah mir direkt in die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf tragische Weise war er so tapfer. Die goldenen Funken in ihm glitzerten so hell, dass ich vor Verlangen beinahe schwankte. »Also, Nuala, dann verrate mir mal, warum ich mich zurzeit ›einen feuchten Dreck‹ um irgendjemanden als mich selbst scheren sollte?«
    Darauf hatte ich keine Antwort.
    Er wandte sich ab und nahm in einer abweisenden Geste ein braunes Kapuzenshirt vom Fußende seines Bettes.
    Ich platzte heraus: »Weil ich
sie
sehen kann und du nicht.«
    James erstarrte. Einfach so. Er zuckte nicht zusammen oder reagierte sonst irgendwie, er hörte nur einfach auf, sich zu bewegen. Eine lange, lange Pause entstand. Als er sich zu mir umdrehte und sich das Shirt über den Kopf zog, war er wieder er selbst. »Eine deiner zahlreichen Begabungen. Ich glaube, ich habe von euch allen für den Rest meines Lebens genug gesehen. Das geht nicht gegen dich persönlich oder deine …« Er wies in meine Richtung. »… körperliche Entwicklung.«
    Ich verzog verächtlich den Mund. »Ich würde das Gegenteil behaupten. Wohin willst du so plötzlich?«
    Hastig zog James seine Turnschuhe

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