Mitternachtskinder
an, und seine Miene wirkte sehnsüchtig. Wir beide wussten, dass er hinausrannte, um den Dornenkönig zu beobachten.
»Ich weiß nicht, was du von mir willst.« James schob sich an mir vorbei, als sei ich unbedeutend. Als sei ich nur einer von vielen Menschen in seinem Leben. Keiner von denen bedeutete ihm etwas, abgesehen von der dummen Dee, die sich einen Dreck um ihn scherte. »Ich werde nie ja sagen.«
Er öffnete die Tür und zog sie hinter sich zu. Leise. Ich hätte sie zugeknallt. Das hätte ich auch im Moment gern getan. Ich blieb lange Minuten in seinem Zimmer stehen und stellte mir vor, dass er sich jetzt wie jeden Abend durch ein Zimmer im Erdgeschoss hinausschlich, um nicht an Sullivans Zimmer vorbeizumüssen.
Ich hätte aufgeben können. Ich hätte mir einen anderen Jungen suchen können, der vor Verheißung golden leuchtete, und sein Leben stehlen, aber was hätte das genützt? Mir blieb ohnehin nur noch Zeit bis Halloween. Selbst wenn ich keinen anderen Jungen fand, würde ich vermutlich nicht vorher sterben – seit dem letzten war noch nicht allzu viel Zeit vergangen, oder? Tatsache war, dass ich absolut nichts zu verlieren hatte. Und dass ich
ihn
wollte.
Ich wirbelte zum Fenster hinaus in den dunkelblauen Himmel, tastete mich an den abstrakten Gedanken von Menschen entlang und fand James – eine kleine, glimmende Gestalt im trockenen, goldenen Gras der Hügel. Er musste mich gespürt haben, als ich mich still neben ihn kniete, doch er sagte nichts, während ich langsam sichtbar wurde. Die Abendluft an meiner Haut war beißend kalt.
Zornig riss ich ein dickes Büschel Gras aus und begann, die Halme in kleine Stücke zu zerrupfen. Einmal hatte ich dabei zugesehen, wie eine Fee einen Menschen zerrissen hatte, als ich noch jünger gewesen war. Oder jedenfalls neuer. Der Mensch hatte einen Sumpf hinter seinem Haus trockengelegt und dabei unwissentlich die Feen getötet, die im Wasser gelebt hatten. Die Fee, die in seinem Brunnen gelebt hatte, war herausgekommen, hatte den Menschen zu dem alten Moorgebiet geschleift und ihn in Stücke gerissen. Ich hatte gefragt, welches Verbrechen er begangen haben sollte, wenn er doch nicht gewusst hatte, dass diese Feen im Sumpf gewesen waren.
Unwissenheit ist keine Entschuldigung für ein Verbrechen,
hatte die Fee, die scheinbar komplett aus Kiemen und Haar bestanden hatte, mich angezischt. Da war mir zum ersten Mal klargeworden, dass ich offenbar anders war als andere Feen.
Erbarmen, so nannten sie das, was ich hatte und andere Feen nicht. Und das war nur der Anfang einer langen Liste.
Ich warf das restliche Gras hin. »Darf ich fragen, warum du dir die Mühe machst, jeden Abend hier herauszukommen? Hast du nicht irgendeine Art von, du weißt schon, Schrein zur Selbstbeweihräucherung, an dem du stattdessen basteln könntest?«
James brummte. Weit in der Ferne hörte ich die ersten paar Noten des Liedes. Er schloss die Augen, als bereiteten die Laute ihm körperliche Schmerzen. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und zutiefst sarkastisch. »Ich finde die Gefahr so erregend, wenn ich mich jeden Abend hinausschleiche. Ich bin schon total aufgedreht. Fühl mal meine Brustwarzen. Hart wie Stein.«
Ich verzog das Gesicht. »Solange es dir Spaß macht.«
»Oh, Baby.« Sein Blick war auf den Horizont gerichtet, und er wartete darauf, dass der gehörnte Kopf dort erschien.
»Du weißt aber, dass das
gefährlich
ist, oder?«, fragte ich. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir gesagt habe, es liefen noch viel Schlimmere als ich hier draußen herum? Das ist eines von diesen
schlimmeren
Wesen, die ich gemeint habe. Bist du eigentlich total bescheuert?«
James antwortete nicht, doch ich wusste, dass die Gefahr einen Teil des Reizes ausmachte.
Ich sah das gewaltige, dunkle Geweih eine Sekunde vor James und packte ihn, zog ihn tiefer ins Gras, bis wir beide verborgen darin kauerten. Wir hatten uns nebeneinander zusammengerollt, die Knie unters Kinn gezogen, mein Arm berührte seinen Arm, mein Kopf seinen Kopf. Ich spürte, wie er immer wieder wegen meiner Fremdartigkeit schauderte, weil sein seltsamer Körper, der eines Sehers, ihn vor meiner Anwesenheit warnte. Trotzdem rührte er sich nicht.
Ganz nah flüsterte ich ihm ins Ohr: »Cernunnos. Gwyn ap Nudd. Hades. Hermes. Der König der Toten.«
Das Lied war jetzt laut, klagend, heulend, und ich fühlte, wie James gegen die Anziehung kämpfte. Vielleicht hatte er endlich erkannt, dass ich seine Gedanken
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