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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wahrnahm. Er drehte sich um und griff nach seinem Kissen. Die Decke hatte er im Schlaf von sich getreten. Es musste heiß sein hier drin, obwohl ich zitterte.
    Ich schlüpfte zur Tür hinaus auf den Flur, hielt den Atem an und versuchte, schnell zu sein, leise zu sein. Ich wusste nicht einmal, wohin zum Teufel ich eigentlich wollte. Oder warum ich es so eilig hatte.
    Grünliches Licht im Flur beleuchtete trübe die geschlossenen Türen der anderen Zimmer. Barfuß lief ich den Flur entlang zum dunklen Treppenhaus, das nach Schweiß und fortgeschrittener Nacht roch. Bei dem Fenster, durch das ich mich sonst hinausschlich, um den gehörnten König zu hören, hielt ich inne. Doch das war es nicht, was ich in meinem Traum gesehen hatte. Die Hintertür brauchte ich.
    Ich schlich über den Flur im Erdgeschoss und vorbei an Sullivans Zimmer. Ich stellte mir vor, wie die Tür aufging und Sullivan wie ein knochiger Springteufel hervorgeschossen kam, doch sie blieb zu, und ich schaffte es durch die Eingangshalle zur Hintertür. Ich öffnete sie, schloss ab und ließ sie zufallen, um sicherzugehen, dass ich wieder hineinkommen konnte. Bibbernd vor Kälte, schob ich die Tür auf und trat auf die Veranda.
    Ich sah Nuala.
    Sie presste sich an die Wand des Wohnheims. Ihr Körper war unnatürlich verdreht, die Arme hatte sie irgendwie hoch und zur Seite ausgestreckt, als wäre sie ans Kreuz genagelt. Sie hatte mir das Gesicht halb zugewandt, Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie trat nach vorne aus. Es schien ewig zu dauern, bis sich mich bemerkte, und währenddessen stand ich da und starrte sie an. Als sie mich entdeckte, sah ich einen seltsamen, unergründlichen Ausdruck in ihren Augen. In diesem langen Moment zuckte ihr Körper auf merkwürdige Weise, und endlich begriff ich.
    Weil ich sie sehen kann und du nicht.
    »Was stehst du noch da herum?«, fauchte Nuala. Aber sie klang nicht gemein, sondern wie ein wildes Tier in der Falle.
    Ich griff nach dem eisernen Armreif an meinem Handgelenk, löste die Kugeln an den Enden und stürmte auf sie zu. Nualas Arme fielen herab, befreit, und sie zeigte auf ihren unsichtbaren Angreifer. Zu spät für mich.
    Etwas traf mich hart, elektrisch, unmenschlich, und ich taumelte und schwang die Faust mit dem Armreif. Ich war blind, aber nicht dumm. Ein unsichtbarer Körper prallte dumpf gegen eine der Säulen, ich ging auf diese Säule los und trug das Eisen wie ein Schwert vor mir. Wieder schlug ich zu, und diesmal erschien die Fee, grünlich, wunderschön, fremdartig – und männlich.
    »Hallo, Pfeifer«, zischte er mich an.
    Und plötzlich war er ein Schwan, als wäre er nie etwas anderes gewesen. Er flog zwischen den Säulen hindurch davon. Ich beobachtete, wie der weiße Fleck am dunklen Himmel verschwand, und wandte mich wieder Nuala zu. Sie hockte auf dem Backsteinboden, zupfte vergeblich an ihrem Haar herum, als wollte sie es präsentabel machen, und weinte immer noch. Aber nicht wie ein Mensch. Sie gab keinen Laut von sich, als ihr die Tränen eine nach der anderen übers Gesicht liefen. Sie schien sie nicht einmal zu bemerken, während sie ihr T-Shirt zurechtzog und an einer Schnittwunde an ihrem Handgelenk saugte.
    »War er allein?«, fragte ich.
    »Bastard«, sagte Nuala. Sie sprach, als könnten Tränen ihre Stimme gar nicht verändern. »Bastarde von Feen. Ich hasse sie. Ich hasse sie.«
    Ich hockte mich vor sie hin, unsicher, was ich tun oder empfinden sollte. Der Backstein war kalt und pikste an den Knien durch meine Jeans. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich fragen: »Geht es dir gut?« Ich wusste ja nicht einmal, was passiert war. War sie vergewaltigt worden? Gab es so etwas wie
beinahe
vergewaltigt? Ihre Kleidung war ganz durcheinander, und sie weinte – dieses psychotische Wesen
weinte –,
also, ich meine, das konnte nichts Gutes bedeuten. Da musste etwas Schlimmes passiert sein.
    Ich dachte, vielleicht sollte ich sie in den Arm nehmen oder so, obwohl sie nie angedeutet hatte, dass sie liebevolle menschliche Berührungen schätzen würde. Außer der menschlichen Haut unter ihren Fingerspitzen, wenn sie einem das Messer zwischen die Rippen stieß.
    »Sei
still
.« Nuala drückte sich die Hand vors Gesicht. »Verdammt noch mal, James. Halt einfach die Klappe.«
    Ich begriff im selben Moment, dass sie meine Gedanken meinte, in dem Nuala begriff, dass sie Tränen auf den Wangen hatte. Sie stand auf, ließ die nasse Hand sinken und starrte darauf

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