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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
    N ach dem Ausflug nach Washington ließ ich James in Ruhe. Na ja, nicht ganz. Ich sprach nicht mit ihm und schickte ihm auch keine Träume, aber ich folgte ihm weiterhin. Ich wartete darauf, dass er wieder mein Lied spielte. Wartete darauf, dass er überhaupt irgendwelche Musik spielte. Die Abende verbrachte ich hinter seinem Wohnheim auf der Veranda, wo er Dee an jenem ersten Abend gefunden hatte. Ich lauschte den Geräuschen menschlichen Lebens drinnen. Audiovoyeur.
    Ein paar Nächte nach dem Ausflug, als die Sonne längst untergegangen war, hörte ich andere Geräusche, von außerhalb des Wohnheims statt von drinnen. Die Feen sangen und tanzten wieder auf demselben Hügel hinter der Schule. Diesmal ging ich nicht zu ihnen, sondern blieb unter den Säulen von James’ Wohnheim stehen, lauschte und schlang die Arme um mich. Das waren die
Daoine Sidhe –
die Feen, die aus Musik bestanden und von ihr angelockt wurden. Eigentlich konnten sie nur zur Sonnenwende erscheinen, hätten also gar nicht hier sein dürfen, aber das waren sie. Ihre klagenden Flöten- und Geigenklänge waren unverkennbar. Hatte Eleanor das damit gemeint, als sie gesagt hatte, wir würden stärker werden? Das Wiedererscheinen der zuvor so schwachen
Daoine Sidhe?
    Eine Berührung an der Schulter ließ mich zusammenzucken. Ich war schon halb unsichtbar, ehe ich merkte, was los war.
    »Nicht doch.« Die Stimme lachte eher, als dass sie sprach. »Nicht doch, Liebchen.«
    Das Lachen ärgerte mich, aber der Kosename war endgültig zu viel. Ich wirbelte herum und verschränkte die Arme. Er war grünlich gefärbt, wie alle
Daoine Sidhe,
wenn sie in der Menschenwelt erschienen, und er lächelte auf mich herab und streckte mir die Hand hin.
    »Was willst du?«, fragte ich gereizt.
    Sein Lächeln zitterte nicht, und er hielt weiterhin die Hand ausgestreckt. Er roch wie eine Fee, nach Klee und Abenddämmerung und Musik. Nicht zu vergleichen mit James’ schwachem Duft nach Rasierschaum und dem Leder seines Dudelsacks. »Du brauchst doch nicht allein hier zu stehen. Es gibt Musik, und wir tanzen bis zum Morgen.«
    Ich blickte mich nach dem fernen Schimmer der Feen auf dem Hügel um. Ich kannte die Worte, mit denen man einen Feentanz beschreiben kann, denn Steven, einer meiner Schüler, hatte die meisten von ihnen niedergeschrieben, während ich sie ihm ins Ohr geflüstert hatte: Missklang, wunderschön, Zucker, Lachen, Erschöpfung, atemlos, Lust, berauscht, betäubt. Ich wandte mich wieder der bezaubernden grünen Gestalt vor mir zu. »Weißt du nicht, wer ich bin?«
    »Du bist die
Leanan Sidhe
«, sagte er und überraschte mich damit, dass er das wusste und mich trotzdem zum Tanzen eingeladen hatte. Sein Blick glitt über mich. »Und du bist sehr schön. Tanze mit uns. Wir werden immer stärker, und der Tanz ist besser denn je. Komm mit mir fort und tanz mit mir. Dazu sind wir hier.«
    Ich betrachtete seine ausgestreckte Hand, ohne sie zu ergreifen. »Dazu seid
ihr
hier«, erwiderte ich. »Ich bin aus einem ganz anderen Grund da.«
    »Sei nicht albern, mein Kleines«, sagte er, nahm meine Hand und zog sie hoch. »Wir sind alle zum Vergnügen hier.«
    Als ich meine Hand zurückziehen wollte, hielt er sie weiterhin fest. »Hast du es nicht gehört? Ich sterbe. Es ist kein Vergnügen, mit einer sterbenden Fee zu tanzen.«
    Er hob meine Hand an die Lippen und küsste sie, dann drehte er sie um und küsste auch die zarte Haut an meinem Handgelenk – halb leckte er darüber, halb biss er hinein. »Noch bist du nicht tot.«
    Erneut riss ich die Hand zurück, doch jetzt umklammerte er mein Handgelenk. Er war stark – viel stärker, als ein
Daoine Sidhe
so nah bei den Menschen, Eisen und der modernen Welt hätte sein dürfen. »Lass los, zum Teufel, oder ich bin nicht die einzige Fee, die hier stirbt.«
    »Du tanzt also nur mit Menschen, ja?« Seine Stimme klang sanft, als hielte er mich nicht zu fest, als hätte ich nicht das Wort »Fee« gebraucht. Er zog mich näher zu sich heran und sprach mir ins Ohr: »Es heißt, wenn die
Leanan Sidhe
einen Mann küsst, würde er das Paradies erblicken.«
    Ich hätte ihn töten können, wenn ich seinen Namen besessen hätte. Ich war nicht gut im Kämpfen, aber sehr gut im Töten. Doch keine Fee würde mir ihren Namen nennen, schon gar nicht jemand von den
Daoine Sidhe,
die so viel von unserer Magie behalten hatten. »Tatsächlich?«
    »Allerdings. Es heißt auch …« Er presste die

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