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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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hinab. Sie sah fassungslos und sehr menschlich aus. Ganz leicht bewegte sie die Finger und betrachtete den feuchten Schimmer darauf im Halbdunkel. Bei diesem Anblick rollten weitere lautlose Tränen über ihr Gesicht, eine nach der anderen, als würde der Strom nie enden, als wäre das Allerschlimmste auf der Welt diese Entdeckung, dass sie weinte.
    Ich war durcheinander. Wir hatten unsere Rollen, die wir in Gegenwart des jeweils anderen spielten, und jetzt ließ Nuala mich damit stehen. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte.
    Nuala rieb sich die Hände an ihrem kurzen Jeansrock, wischte mit einer zornigen Bewegung die Tränen fort, zerrte dann den Rocksaum nach unten und strich ihn glatt. Ich griff hinter sie, um den Schmutz vom Rücken ihres T-Shirts zu klopfen. Bei meiner Berührung zuckte sie zusammen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte, also tat ich so, als hätte ich nichts gemerkt.
    »Jetzt weißt du es also.« Nuala schaute mich nicht an, sondern wischte sich weiterhin unsichtbaren Staub von der Kleidung.
    Das war leichter als Schweigen. »Jetzt weiß ich was?«
    »Wie es ist. Mit mir.«
    Ich blinzelte. Ihrem Gesichtsausdruck und dem leichten Beben in ihrer Stimme nach zu urteilen, mussten diese Worte voller Bedeutung sein. Im Geiste ließ ich die vergangene Szene noch einmal ablaufen und rief mir alles ins Gedächtnis, was sie gesagt hatte. »Nuala, du bist hier diejenige, die Gedanken lesen kann, nicht ich.«
    Nuala sah mich an, und ihre Haltung drückte so deutlich:
Ach, schon gut
aus, dass ich beinahe glaubte, sie hätte es laut ausgesprochen. Stattdessen erklärte sie: »Ich bin unter den Feen eine Einzelgängerin. Weißt du, was das bedeutet?«
    Sie hielt inne, als erwartete sie tatsächlich eine Antwort von mir.
    »Das bedeutet, ich bin ein Freak, James.«
    Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich vorher je beim Namen genannt hätte. Das hatte eine sehr seltsame Wirkung auf mich: Es war, als könnte ich nichts mehr von dem glauben, was ich über sie dachte. Ich hatte einen Kuli in der Hosentasche, und ich wollte ihn unbedingt herausholen. Ich konnte schon die Buchstaben sehen, die ich damit schreiben würde:
Beim Namen nennen.
    »Es ist mir egal, ob du das tust«, sagte Nuala. Mit dem Kinn wies sie auf die Tasche, in der mein Stift steckte. »Kapierst du es nicht? Ich bin ein noch größerer Freak als du.«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Eigentlich hätte ich etwas Sarkastisches erwidern sollen, um die Stimmung aufzulockern, aber ich wollte nicht. Ich wollte, dass sie weiterredete.
    »Und niemand steht für mich ein. Du weißt ja nicht, wie gut du es hast. Du hast menschliche Gesetze und Schulregeln und deine Eltern und sogar Paul, und sie alle halten dir die Welt vom Hals. Ich bin nur ich, niemand für niemanden. Ist es nicht dumm, wie lange ich gebraucht habe, um herauszufinden, dass ich dich
beneide?
« Sie lachte, und es klang wild und unglücklich. »Dich, der für mich den Dummen spielen sollte, den ich ausnutze, bis ich dieses Jahr verbrannt werde und alles vergesse.«
    Ich seufzte. Wenn sie Dee gewesen wäre, hätte ich noch eine Sekunde gewartet, um sie vollständig implodieren zu lassen. Aber sie war eben nicht Dee, und ich glaubte nicht, dass das bei Nuala genauso funktionierte. Also dachte ich daran, was ich mir auf die Hand hatte schreiben wollen, damit ich es nachher nicht vergaß.
    »Nuala«, sagte ich.
    Sie blickte mich an.
    »Nuala, können wir so eine Art Waffenstillstand schließen? Ich meine, ab morgen kannst du mich wieder ein Arschloch nennen und versuchen, mich in den Tod zu locken, und ich verspreche, dich dann wieder wie ein psychotisches Miststück zu behandeln und nachzuforschen, wie ich dich vertreiben kann. Aber ernsthaft, können wir nur heute Nacht mal die Waffen ruhen lassen? Um ehrlich zu sein, kriege ich Kopfschmerzen, wenn ich über all das nachgrübele, und – können wir nicht einfach irgendwo hinfahren und etwas essen oder so? Gibt es hier überhaupt einen Laden, wo wir mitten in der Nacht noch etwas zu essen bekommen?«
    Ihre Miene war undurchdringlich. »Ich denke immer, dass er mich doch irgendwann nicht mehr überraschen dürfte, dein unglaublich dummer Mut. Hast du dich denn
nie
vor mir gefürchtet?«
    Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Ich habe eine Scheißangst vor dir.«
    Da begann sie zu lachen, ein verrücktes, echtes Lachen, als sei ich das Witzigste auf der Welt. Wenn sie so lachte,

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