Mitternachtskinder
gemacht hatte.
»Willst du mich küssen?«, fragte sie.
Ich holte tief Luft.
»James«, drängte sie. »Ich will es nur wissen. Möchtest du mich küssen?«
Ich wandte mich ihr zu. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Sie setzte eine seltsame, unsichere Miene auf und verzog die Mundwinkel. »Wenn du willst … dann kannst du.«
Endlich brachte ich etwas hervor, und als ich sprach, hörte sich meine Stimme merkwürdig an. Nicht wie meine. »Das ist eine komische Art, jemanden zu bitten, dich zu küssen.«
Dee biss sich auf die Lippe. »Ich dachte nur … Ich wollte nur wissen, ob … Also, wenn du nicht willst, ich meine, ich will nichts kaputt machen, ich …«
So hatte das nicht laufen sollen, und ich wusste einfach nichts zu sagen. Einen Moment lang schloss ich die Augen und nahm dann ihre Hand. Sofort bekam ich eine Gänsehaut an den Armen und machte noch einmal kurz die Augen zu. Ich spürte den zwanghaften Wunsch, mir einen Kuli zu suchen und etwas auf meine Hände zu schreiben. Wenn ich nur
Kuss
oder
???
oder
Mundwasser
auf meine Haut schreiben könnte, dann würde ich der Sache schon Herr werden.
In der Ferne sprang die Alarmanlage eines Autos an. Ich beugte mich vor und küsste sie ganz sacht auf den Mund. Das würde die Welt nicht verändern. Es kamen auch keine Engelschöre herabgeschwebt, um mit ihrem Gesang unseren Kuss zu begleiten. Aber mir blieb das Herz stehen, und ich glaubte, nie wieder atmen zu können.
Dees Augen waren geschlossen. Sie sagte: »Versuch es noch einmal.«
Zärtlich schlang ich die Arme um ihren Nacken, wie ich es mir schon tausendmal vorgestellt hatte. Ihre Haut fühlte sich warm an, klebrig-feucht vor Hitze, und sie roch nach Blumen und Shampoo. Ich küsste sie noch einmal, ganz vorsichtig. Nach einer langen, langen Pause erwiderte sie den Kuss. Mir war eiskalt, mitten an diesem heißen Tag in Washington. Ich spürte ihre Lippen auf meinen und ihre Arme, die endlich über meinen Rücken glitten und mich ganz fest hielten, während ich sie küsste und küsste und küsste. Wir taumelten in die hintere Ecke des Balkons, ohne den Kuss zu unterbrechen. Dann hob ich den Kopf, schmiegte das Gesicht an ihr Haar und versuchte zu begreifen, was zum Teufel hier passierte.
Lange standen wir so im Schatten, und ich hielt sie im Arm, als sie plötzlich zu weinen begann. Erst spürte ich nur, wie sie zitterte. Ich wich ein Stückchen zurück, um ihr ins Gesicht zu sehen, und merkte, dass es ganz nass war.
Dee blickte mit verheultem Gesicht und entsetzlich traurigen Augen zu mir auf und biss sich auf die Lippe. »Es hat mich an Luke erinnert. Ich musste daran denken, wie er mich geküsst hat. Als du mich geküsst hast.«
Ich rührte mich nicht. Ich glaube, sie dachte – ich glaube, sie hielt mich für einen besseren Menschen, als ich tatsächlich war. Selbstloser. Einfach irgendwie besser. Ich ließ ihre Hände los und trat einen Schritt zurück.
»James«, sagte sie.
Ich war innerlich tot. Ihre Stimme berührte mich gar nicht. Mit einem weiteren Schritt rückwärts war ich bei der Balkontür und tastete nach dem Türgriff. Überall um mich herum roch es nach Klee, Thymian und Blumen. Mein sechster Sinn flüsterte drängend auf mich ein, aber ich wollte nur noch hier weg.
»James,
bitte
. James, es tut mir leid. Ich wollte das nicht sagen.« Dees Stimme brach, doch sie sagte weiterhin meinen Namen. Endlich bekam ich die verdammte Tür auf. Ein kalter Luftschwall traf mich. Dee begann zu weinen, wie ich sie noch nie hatte weinen hören. »O Gott, James, es tut mir so leid.
James.
«
Schnurstracks ging ich den Flur entlang, die Treppe hinunter, an dem Zirkusaffen vorbei, zur Tür hinaus auf den Parkplatz und zwischen den Autos hindurch zu unserem Bus.
Dort saß Nuala auf der Bordsteinkante und wartete auf mich, aber sie sagte nichts, als ich mich neben sie setzte. Was nur gut war, denn ich hatte keine Wörter mehr in mir. Auch keine Musik. Ich war nichts.
Ich verschränkte die Arme auf meinen Knien und legte den Kopf darauf.
Schließlich fragte Nuala: »Sind
sie
deinetwegen hier oder ihretwegen?«
[home]
Nuala
Diese sommersüße Nacht ist nur eine Minute, die folgt einer anderen und der davor.
Wunderschöner Missklang, Zucker auf den Lippen, tanzend bis zur Erschöpfung
Dachte ich an dich, vor dieser Minute, die folgt einer anderen und der davor.
Bis meine Lippen ertaubt auf den Mund einer anderen trafen und es um mich geschehen war.
Aus Die Goldene
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