Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
bewerten würde. Sie bog die Ecke einer unserer Titelseiten vor und zurück, den Blick immer noch auf uns gerichtet. Ich hätte ihr nur zu gern einen Klaps auf die Finger gegeben. »Paul und ich und noch ein paar andere. Wie gesagt, Mr.Sullivan wird damit einverstanden sein.«
    »Machen
andere
denn auch solche Projekte?« Linnet sah uns stirnrunzelnd an und starrte dann auf die geknickte Ecke des Blattes, als könnte sie sich nicht erklären, wie die Falte ins Papier gekommen war. »Es erscheint mir unfair, ein Projekt, das sich so drastisch von den anderen unterscheidet, nach demselben Maßstab zu bewerten wie herkömmliche Aufsätze, die den Regeln entsprechen.«
    O Gott, jetzt würde sie uns einen Vortrag über Regeln halten, und ich würde mich nicht daran hindern können, irgendetwas unglaublich Sarkastisches zu sagen und dadurch auch den lieben Paul gleich mit in den Abgrund zu reißen. Ich biss mir auf die Innenseite der Unterlippe und bemühte mich, sie nicht böse anzufunkeln.
    »Mr.Sullivan ist neu an der Thornking-Ash. Und noch recht neu im Lehrberuf. Ich glaube, ihm ist noch nicht bewusst, welche Auswirkungen es haben kann, wenn man Schülern erlaubt, die Grenzen allzu weit zu überschreiten.« Linnet legte unsere Entwürfe übereinander und griff zum Rotstift. Ich verzog das Gesicht, als sie
Format/Aufbau
ganz oben auf beide Blätter schrieb. »Ich werde mit ihm darüber sprechen, wenn er zurückkommt. Mit dem Aufsatz müssen Sie wohl wieder ganz von vorn anfangen. Es tut mir leid, dass er Sie offenbar hat glauben lassen, Sie könnten seine Aufgabenstellung so locker interpretieren.«
    Obwohl ich ihr gern eine sehr scharfe Erwiderung an den Kopf geworfen hätte, wie:
Es tut mir leid, dass Sie offenbar der Meinung waren, Sie könnten »weibliches Aussehen« so locker interpretieren
oder
Wer ist gestorben und hat Sie zur Göttin ernannt, Süße
?, lächelte ich nur angespannt. »Natürlich. Sonst noch etwas?«
    Sie sah mich finster an, als hätte ich meine ausgesuchten Antworten laut ausgesprochen. »Ich kenne junge Leute wie Sie genau, Mr.Morgan. Sie halten sich für etwas Besonderes, aber warten Sie nur, bis es hinausgeht ins echte Leben. Sie sind ebenso wenig besonders wie alle anderen, und Ihre Witzchen und Ihre Verachtung jeglicher Autorität werden Sie nirgendwohin bringen. Mr.Sullivan hält Sie vielleicht für einen aufgehenden Stern, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich das nicht tue. Sternchen wie Sie sehe ich jeden Tag in der Atmosphäre verglühen.«
    »Danke für den Tipp«, sagte ich.
     
    Ich spielte beschissen. Mitten an diesem herrlichen Tag stand ich auf meinem herrlichen Hügel. Alles war übersättigt mit herbstlichen Farben, mein Dudelsack klang phantastisch, die Luft an meiner Haut fühlte sich wunderbar an – und ich konnte mich auf rein gar nichts konzentrieren.
    Dees schlechte Note.
    Pauls Liste der Toten.
    Nualas Finger an meinem Handgelenk.
    Ich schloss die Augen und hörte zu spielen auf. Langsam atmete ich aus und versuchte, mich auf diesen schmalen, kleinen Teil meines Selbst zu konzentrieren, in den ich mich bei Wettbewerben zurückzog. Der kam mir jetzt jedoch vor wie eine unzugängliche Felsspalte, in die ich unmöglich reinpassen konnte, weil ich zu klobig und zu lang war.
    Ich öffnete die Augen wieder. Der Hügel war immer noch leer, weil alle anderen entweder Ensemblestunden oder Einzelunterricht hatten. Ein Glück, denn deshalb war niemand in der Nähe, der hörte, wie mies ich spielte. Vielleicht war ich tatsächlich nur eine Sternschnuppe, wie Linnet gesagt hatte, und ich würde ein großer Niemand in irgendeinem Büro werden, wenn ich hier herauskam.
    Ich blickte auf meinen Schatten hinab, der sich blaugrün und lang auf dem niedergetrampelten Gras erstreckte, und während ich hinsah, erschien ein zweiter Schatten daneben.
    »Du spielst heute beschissen«, bemerkte Nuala hinter mir.
    »Danke, da fühle ich mich doch gleich besser«, entgegnete ich.
    »Ich soll auch nicht dafür sorgen, dass du dich besser fühlst.« Nuala ging um mich herum und trat vor mich, und ich schluckte, als ich ihre Hüftjeans und das hautenge T-Shirt in allen Farben des Ozeans sah, genau wie ihre Augen. »Ich soll dafür sorgen, dass du besser
spielst
. Ich habe dir etwas mitgebracht.«
    Sie streckte mir die Faust hin und öffnete langsam die Finger, um es spannend zu machen.
    »Nuala«, sagte ich und griff nach ihrem Geschenk, »das ist ein Stein.« Ich hielt ihn mir vors Gesicht, um

Weitere Kostenlose Bücher