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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ihn mir genauer anzusehen, aber es war tatsächlich nur ein Stein. Er war etwa so lang wie mein Daumen, ganz weiß und von vielen Jahren glatt poliert.
    Nuala schnaubte und riss ihn mir aus der Hand, ehe ich sie daran hindern konnte. »Das ist ein Worry Stone, ein Troststein«, erklärte sie. »Schau her, dummer Mensch.« Sie legte sich den Stein auf die Handfläche und rieb mit Daumen und Zeigefinger daran.
    »Was soll das genau bewirken?«
    Nuala legte den Stein in ihre linke Hand, nahm mit der rechten meinen Daumen und hielt ihn so, wie sie eben den Troststein gehalten hatte. »Du musst ihn reiben«, sagte sie, und einer ihrer Mundwinkel hob sich, »wenn du dich entspannen willst.« Mit Daumen und Zeigefinger strich sie über meinen Daumen, genau so, wie sie es eben bei dem Stein gemacht hatte. Ihre Finger berührten meine Haut und hinterließen unsichtbare Versprechen, und,
o verdammt,
mir wurden die Knie weich dabei.
    Grinsend drückte sie mir den Stein in die Hand. »Ja. Du hast es erfasst. Du reibst einfach den Stein, wenn du nervös wirst oder Ruhe zum Nachdenken brauchst. Ich dachte, er könnte dich davon abhalten, deine Hände vollzuschreiben. Natürlich kann er nichts daran ändern, dass du ein neurotischer Freak bist. Aber er wird bewirken, dass andere Leute dich erst als neurotischen Freak erkennen, wenn es zu spät ist.«
    Ich schluckte wieder, aber diesmal aus einem anderen Grund. Dieser Handschmeichler war vielleicht das aufmerksamste Geschenk, das ich je von irgendwem bekommen hatte. Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich Dankbarkeit für Geschenke immer heucheln müssen. Jetzt, da ich tatsächlich dankbar war, schien ein
Danke schön
irgendwie nicht auszureichen.
    Es kam mir ganz falsch vor, dass die erste Reaktion, die mir einfiel, eine sarkastische Erwiderung war. Etwas, das dieses Gefühl der Wärme aus meinen Wangen vertreiben und mir die Selbstbeherrschung zurückgeben konnte.
    »Du kannst dich später bedanken.« Nuala wischte sich die Hände an der Hose ab, obwohl an dem Stein nichts war, wovon sie hätten schmutzig werden können. »Wenn du das nächste Mal vergisst, einen Kuli mitzunehmen.«
    »Das …« Ich verstummte, weil meine Stimme komisch klang.
    »Ich weiß«, sagte sie. »Also, spielst du jetzt weiter oder nicht? Du kannst nach diesem letzten Tanz nicht einfach aufhören. Der war total …«
    »Beschissen?«, schlug ich mit völlig normaler Stimme vor, steckte den Stein ein und ordnete meine Pfeifen.
    »Ich wollte etwas Netteres sagen, zum Beispiel … Ach was, du hast recht. Beschissen stimmt schon.« Sie zögerte, und ihr Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an. Beinahe unschuldig. »Können wir mein Lied spielen?« Sie meinte das Stück, das sie mir im Traum geschickt hatte – die Musik, die ich auf dem Klavier gespielt hatte.
    Ich fand es grässlich, nein zu sagen. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie für diese Augenblicke geistiger Klarheit und nicht-mörderischen Verhaltens belohnen sollte. »Es passt nicht zum Tonumfang vom Dudelsack.«
    »Wir können es abändern.«
    Ich verzog das Gesicht. Natürlich konnten wir es so zusammenquetschen, dass es passte, aber das würde dem Stück das Leben auspressen. Die Schönheit der Melodie lag in den hohen Tonlagen, und da reichte der Dudelsack einfach nicht hin.
    »So schlimm wird es nicht. Komm schon«, sagte Nuala. Dann merkte sie offenbar, dass sie niedlich und lieb klang, denn sie zog die Augenbrauen hoch und fügte hinzu: »Es kann jedenfalls nicht schlimmer sein als der Jig, den du eben verhackstückt hast.«
    »Ha. Deine Worte schmerzen wie scharfe Klingen. Also gut. Beweise mir, dass ich nicht recht habe.«
    Erneut stimmte ich die Pfeifen, und Nuala stellte sich dicht an meine Schulter. Unsere Schatten wurden zu einem einzigen blaugrünen Umriss auf dem Gras, mit zwei Beinen und vier Armen. Nur einen Moment lang zögerte ich, ehe ich hinter mich griff und ihre Hand nahm. Ich zog sie um mich herum und legte ihre Finger auf die Spielpfeife. Ihre Hand sah klein darauf aus, und sie musste die Finger strecken, um alle Grifflöcher zu bedecken.
    »Du weißt doch, dass das nicht funktioniert«, meinte Nuala leise.
    Ja, das wusste ich. Deswegen brauchte es mir aber noch lange nicht zu gefallen. Ich schob die Hand unter ihre und bedeckte die Löcher mit den Fingern, so dass ihre Hand immer noch auf meiner lag. »Dann tun wir eben so. Wo ist deine andere Hand?«
    Sie musste sie zwischen meinem Arm und meinem Körper

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