Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
gerechnet, dass James zu dieser Art Kuss fähig war.
    Ohne ein Wort zu verlieren, ließen wir uns in einem der großen, weichen Sessel nieder und schmiegten uns aneinander. Sein Herz pochte langsam und beruhigend unter meinem Ohr.
    Ich hörte seine Gedanken. Er überlegte, mich zu fragen:
Was tun wir hier?
Und er dachte an Halloween, das schon so nah war. Dann fiel ihm wieder ein, dass ich seine Gedanken hören konnte, und er fühlte sich mies – er hatte mich nicht daran erinnern wollen, wie wenige Tage mir noch blieben.
    Als hätte ich das vergessen können.
    »Du warst phantastisch bei der Probe«, flüsterte James, um sich vom Monatsende abzulenken.
    »Ich weiß.«
    Seine Worte wurden von meinem Haar gedämpft. »Ich weiß, das war kein großer Kinofilm, aber …«
    »Halt den Mund.« Ich wusste nicht, warum, aber ich wollte ebenso wenig darüber reden, dass ich wirklich glücklich gewesen war, wie ich über Halloween reden wollte.
    Damit hatte ich seine Gefühle verletzt. Er dachte kurz an den Troststein und daran, dass
Ballade
als Geschenk für mich gedacht war, aber er sagte nichts. James würde sich nie anmerken lassen, dass ihn etwas verletzte.
    »Halt den Mund«, wiederholte ich, obwohl er kein Wort laut gesprochen hatte. Ich hatte Mühe, meine Stimme normal klingen zu lassen. Aus irgendeinem Grund fühlte sich meine Kehle ganz klebrig an, und das Sprechen fiel mir schwer bei dem Gedanken daran, was ich sagen wollte. »Du weißt, wie sehr es mir gefallen hat. Du willst nur, dass ich dein Ego noch ein bisschen mehr poliere.«
    James stürzte sich darauf. »Genau das ist es. Ich wollte nur von dir hören, wie wunderbar ich bin. Du bist so einfühlsam, es ist beinahe, als könntest du
meine Gedanken lesen

    Ich zwickte ihn. »Du bist
so
ein Idiot.«
    James räusperte sich, als fühlte er sich geschmeichelt.
    Er sagte nichts mehr und ich auch nicht. Wir saßen da, miteinander verknotet, und lauschten mit geschlossenen Augen unserem Atem, der immer langsamer wurde. Die Schöne und das Biest. Na ja, wohl eher das Biest und das Biest.
    Ich wollte nicht einschlafen. Ich meine, bis auf dieses eine Mal hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie geschlafen. Ich hatte zwar gewusst, was Wörter wie
erschöpft
und
gelangweilt
bedeuteten, aber
schläfrig
oder
müde
oder
völlig erschlagen
hatte ich noch nie verstanden. Bis jetzt. Bis Halloween nur noch ein paar Tage entfernt war, ich seit Monaten keinen Pakt mehr geschlossen hatte und mein Körper mich im Stich lassen wollte. Ich hatte mir vorgenommen, mein Wort zu halten und heute Nacht herauszufinden, was die Feen hier im Schilde führten. Oder, genauer gesagt, was die Schüler damit zu tun hatten.
    Stattdessen schlief ich. Drei Stunden und siebenundzwanzig Minuten lang.
    Es machte mir Angst, müde zu sein. Ich stellte mir vor, ich könnte eines Nachts die Augen zumachen und sie nie wieder aufschlagen. Und dann – nichts. Das behaupteten sie jedenfalls immer – dass Feen keine Seele hatten.
    Während ich schlief, hatte James sich von mir abgewandt und zusammengerollt, in seinem wilden Kampf mit dem Schlaf die Hände zu Fäusten geballt. So konnte ich langsam von ihm abrücken, ohne ihn zu wecken, konnte aus dem Sessel und aus meinem Körper gleiten. In dem Augenblick, als ich unsichtbar wurde, sah ich trockenes Laub über den Boden wirbeln. James zitterte ganz leicht und bekam eine Gänsehaut.
    Früher hatte ich den Blätterwirbel geliebt, der meine Verwandlung begleitete. Freiheit. Auf Gedanken fliegen. Früher einmal waren Blumen und grünes Sommerlaub erschienen, wenn ich meine Form verändert hatte. Dann waren die Blumen Beeren und Samenhülsen gewichen, und die Blätter hatten sich gelb, dann rot gefärbt. Jetzt waren es vertrocknete, alte, tote Blätter. Keine Blüten. Keine Samen.
    Ich flog aus dem Wohnheim hinaus über die Hügel und suchte nach dem, was ich stets gemieden hatte: andere Feen.
    Ich gähnte. Ich war schon wieder müde.

[home]
    Nuala
    Wir tanzen, wir tanzen
    Du hältst meinen Seelenfaden
    Du drehst dich, du drehst dich
    Und wickelst den Teil vom Ganzen ab
    Wir lachen, wir lachen
    Ich bin dem Anfang schon so fern
    Ich falle, ich falle
    Und ich vergesse, dass ich bin.
    Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
    Z um zweiten Mal suchte ich den Feentanz hinter der Thornking-Ash auf. Sobald ich in den Feenring trat, wich die scharfe Kühle der Oktobernacht der Hitze von tanzenden Leibern und Feenlichtern. Die aufpeitschende Musik

Weitere Kostenlose Bücher