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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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gefährlich gebleckten Zähnen an. »Du bist also eine Freundin von James?«
    Dee lächelte das falsche Bühnenlächeln, das ich von früher kannte, von unserer alten Schule. »Ich kenne ihn seit neun Jahren.«
    Nuala streichelte meinen Hinterkopf. Ich musste mich anstrengen, um bei ihrer Berührung nicht die Augen zu schließen. »Das ist eine lange Zeit.«
    »Wir sind sehr gute Freunde«, erklärte Dee.
    »Offensichtlich.«
    Hinter Dees Rücken formte Paul seine Finger zu Klauen und fuhr damit durch die Luft. Mit den Lippen formte er:
Miau!
    »Wie lange kennst du ihn denn schon,
Nuala?
«, fragte Dee.
    »Ach, seit etwa einem Monat.«
    Dees Lächeln gefror. »Das ist nicht sonderlich lange.«
    Nualas Lächeln verschwand, als sie zum Siegtreffer ansetzte. Sie ließ die Finger sinken und legte sie hinten auf meinen Kragen. »Ach, ich habe nicht lange gebraucht, um zu merken, was ich da gefunden hatte. Aber das brauche ich
dir
ja nicht zu sagen, oder? Du kennst ihn schließlich seit
neun Jahren

    Dee starrte auf Nualas Finger an meinem Kragen und auf meinen ganzen Körper, der sich irgendwie Nualas zuneigte, und ihre Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen.
    »Ja«, erwiderte Dee. »Ja, das brauchst du mir nicht zu sagen.« Ihr Blick schweifte über Megan und ihre beiden offenen Schachteln voll Essen, über Eric und seine Gitarre, die an der Wand lehnte, über Paul mit seinen runden Augen, über Nuala und ihre Finger in meinem Nacken, und schließlich über mich. Ich wusste, wie es wirkte. Es wirkte so, als käme ich sehr gut ohne sie zurecht. Es wirkte so, als säße ich hier mit meinen Freunden, mit denen ich lachte und chinesisches Essen aus der Schachtel aß. Als sei ich mit allem zufrieden, so wie es war. Es wirkte, als säße Nuala auf der Armlehne meines Sessels, als wäre sie verliebt in mich, als wären wir ein Paar.
    Wie Campbell schon sagte:
Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das tut mir aufrichtig leid.
    Es war wahr. Ich
war
mit allem zufrieden.
    Und es tat mir aufrichtig leid.
    Ich hatte geglaubt, es würde sich phantastisch anfühlen, es Dee mit gleicher Münze heimzuzahlen. Doch so war es nicht. Ich sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht – oder vielleicht eher den sorgsam gehüteten
Mangel
an Ausdruck – und erkannte ihn, denn ich hatte diese Miene selbst schon zu oft aufgesetzt.
    Sie nuschelte irgendeine Ausrede, um von hier wegzukommen, und sie tat mir leid, aber nicht so sehr, dass ich ihr nachgelaufen wäre. Nicht wegen Nuala. Nuala hasste sie zwar, aber sie hätte mich sicher nicht daran gehindert, Dee nachzulaufen und den Schock abzumildern.
    Aber ich war fertig damit, alles für Dee abzumildern. Wann hatte sie das je für mich getan? Ich war fertig damit.
    Ich hätte Nuala dafür küssen mögen, dass sie mich befreit hatte.

[home]
    Nuala
    Man braucht keinem Vogel zu sagen, was er ist,
    Noch einen Fisch an seine Bestimmung zu erinnern.
    Nur wir verirren uns unterwegs.
    Wir haben Namen, weil wir sie brauchen.
    Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
    I ch hatte die bequemsten Sessel der Welt, wie James sie nannte, als mein persönliches Königreich annektiert. Ich überlegte, hinauszugehen und zu tun, was ich James versprochen hatte: herauszufinden, was hier los war. Aber kurz vor Mitternacht kam James zu mir heruntergeschlichen. Er war barfuß, bewegte sich fast lautlos und sah in T-Shirt und Jogginghose sehr niedlich aus. Ich stand auf und kam ihm durch die Lobby entgegen, und aus der Nähe erkannte ich, dass er nicht nur sehr niedlich, sondern auch total erschöpft aussah. Seine Augen waren verquollen. Wenn ich so darüber nachdachte, konnte ich mich gar nicht daran erinnern, wann er zuletzt geschlafen hatte.
    »Hallo, du Irre«, sagte er ein wenig verlegen, da wir ja nun nicht mehr versuchten, einander umzubringen.
    Ich blieb mit hängenden Armen stehen. »Hallo, du Arschloch.«
    Und dann küssten wir uns. Das war kein verrückter Kuss, wir berührten einander nur sacht und müde mit den Lippen, einfach, weil wir es konnten. Es fühlte sich merkwürdig an, als wären wir nicht mehr dieselben Menschen wie früher an diesem Tag, als ich zum ersten Mal eine knallharte Regisseurin gewesen war oder als James vor seiner Nicht-Freundin an meiner Unterlippe geknabbert hatte. Nicht schlecht, nur merkwürdig. Aus irgendeinem Grund hätte ich nicht damit

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