Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Muss ich dir sagen, dass du an die Rolle glauben sollst, damit wir sie dir auch glauben können?«
    Das war nicht nötig, und sie wusste es. Ich brauchte mir auch das Textheft nicht von ihr zurückzuholen, weil ich die erste Seite auswendig kannte.
    »Moment«, meinte Nuala und ging hinüber zum Dimmschalter. Sie knipste das Licht im Saal aus und die Scheinwerfer über der Bühne an, so dass eine Insel aus Licht in einem Meer von Dunkelheit entstand.
    Auf einmal war es wirklich.
    »Jetzt«, sagte sie mit einer Stimme, die nur für mich bestimmt war, und deutete nach vorn. »Da ist deine Markierung.«
    Ich trat an den Rand der Bühne –
sei Campbell –
und streckte die Arme zu beiden Seiten aus, als wollte ich das Publikum willkommen heißen oder auch etwas aus dem Himmel herabbeschwören. »Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Ich bin Ian Everett Johan Campbell, der dritte und letzte. Ich hoffe, Ihre Aufmerksamkeit eine Weile fesseln zu können. Ich muss Ihnen sagen, dass das, was Sie heute Abend sehen werden, absolut real ist. Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das …« Ich machte eine Pause. »… tut mir aufrichtig leid.«
    Ich ließ die Arme sinken, biss mir auf die Lippe und betrachtete die Bühne hinter mir. Dann drehte ich mich um und ging ab. Eric klatschte im Saal, als ich zu Nuala an den Rand der Bühne trat.
    »Gott sei Dank, das ist besser«, flüsterte Nuala mir zu. Auch das hätte sie mir nicht zu sagen brauchen. Wir sahen zu, wie Paul und Megan Leon und Anna spielten, und, o Wunder, Paul war ein viel besserer Leon. Und entweder lag es daran oder an Nualas Zureden: Megan war nun eine bessere Anna. Beide mussten immer noch ins Textheft schauen, aber das Ganze sah tatsächlich … glaubhaft aus.
    »Zaubertricks, Leon. Kleine Kunststückchen«, sagte Megan. Sie zuckte sogar mit den Schultern. Ich meine, so wie es ein echter Mensch tun würde. »Das ist alles.«
    Und Paul regte sich wirklich auf. Ich meine – er
war
Leon. »Ich war dort, Anna. Ich habe ihm dabei zugesehen. Im Publikum hat eine Frau geweint. Die Leute haben es für echt gehalten. Sie wussten, dass es echt war.«
    Ich konnte nicht aufhören zu grinsen.
    Nuala zwickte mich in den Arm, und als ich mich ihr zuwandte, sah ich, dass auch sie strahlte vor schöpferischer Freude. Etwas, das ich mein ganzes Leben lang als selbstverständlich hingenommen hatte.
    Danke, Izzy Leopard,
dachte ich.
    »Ihr habt echt Hilfe gebraucht«, sagte Nuala, doch ich hörte ihr an, was sie damit eigentlich meinte:
Ebenfalls danke.
     
    Jungs durften keine Mädchen in die Seward Hall mitbringen (sonst würden sie einem die Eier abschneiden und per Eilpost heim zu den Eltern schicken), also warteten wir an der Tür auf den Fahrer vom Chinarestaurant und schleiften dann die bequemsten Sessel der Welt aus der Lobby hinaus auf die Veranda.
    Es war ein absolut herrlicher Abend – sämtliche Schattierungen von Gelb, Gold und Rot leuchteten auf den Hügeln hinter dem Wohnheim. Es war ein bisschen zu kühl für blutsaugende Insekten und ein bisschen zu warm, um eine Gänsehaut zu bekommen. Etwas zu essen hatte noch nie so gut geschmeckt wie der gebratene Reis mit Huhn, den ich mit der Plastikgabel aus der Pappschachtel aß, und das tat ich im bequemsten Sessel der Welt mit Nuala auf der Armlehne.
    »Ich versuche dir bloß zu erklären, dass es Menschen gibt, die allergisch gegen Wasser sind.« Paul sprach zwischen zwei Bissen von irgendetwas, das rot und schleimig aussah.
    »Man kann nicht gegen Wasser allergisch sein«, protestierte Megan. »Der Körper besteht doch zu, was weiß ich, neunzig Prozent aus Wasser.«
    Ich unterbrach sie. »Nicht neunzig Prozent. Niemand hat neunzig Prozent Wasser in sich, außer Mrs.Thieves. Die schwappt ja beim Gehen praktisch über.«
    Eric schnaubte und hustete etwas Reis aus.
    »Oh, das sieht sexy aus«, bemerkte Megan, die dabei zusah, wie Eric den Reis von den Backsteinen schnippte. »Jedenfalls kann niemand allergisch gegen Wasser sein. Das ist so, als wäre man gegen … gegen … das Atmen allergisch.«
    Nuala warf Megan einen vernichtenden Blick zu, ehe sie sprach. »Doch, das stimmt. Es hat weltweit, glaube ich, zwei Fälle gegeben. Ich habe etwas darüber gelesen. Die Allergie war so selten, dass sie
ewig
nicht diagnostiziert wurde, und jetzt müssen diese Leute sehr seltsame Dinge tun,

Weitere Kostenlose Bücher