Mitternachtskinder
damit sie sich nicht umbringen, indem sie leben.«
Dankbar schaute Paul zu Nuala und fügte hinzu: »Das ist wie bei diesen Leuten, die allergisch gegen Sonnenlicht sind. Sie bekommen als Babys superüblen Sonnenbrand, und wenn man sie nicht vor der Sonne schützt, sterben sie an Krebs. Sie müssen immer bei geschlossenen Jalousien drinnen bleiben. Sonst kriegen sie so grässliche Blasen am ganzen Körper.«
»Das muss schrecklich sein«, sagte Eric. »Als wäre man gegen sich selbst allergisch oder gegen das Leben. Als wäre man nur zum Sterben geboren.«
Nuala wandte sich ab und betrachtete die Hügel. Als ich ihr Handgelenk mit den Fingern umfasste, riss ich damit ihre Aufmerksamkeit wieder an mich. Ich bot ihr eine Gabel voll Reis an. »Willst du mal probieren?«
Sie musterte mich, als wollte sie erwidern:
Machst du Witze?
Aber entweder war sie neugierig auf Essen an sich, oder sie wollte mich nicht enttäuschen. Vielleicht wollte sie auch vor den anderen menschlich aussehen – jedenfalls beugte sie sich zu mir vor und öffnete den Mund. Ich schaffte es, den Reis da hineinzumanövrieren, ohne ihn ihr komplett übers Shirt zu kippen, was nicht so leicht war, wie es sich anhört. Nur ein einziges Korn blieb an ihrer Unterlippe hängen und drohte jeden Moment herunterzufallen, während sie mit zweifelnder Miene kaute und schluckte.
»Du hast … da ein …« Ich deutete auf ihren Mund, tastete nach einer Serviette und merkte, dass Megan alle hatte. Nuala hätte den Reis einfach wegwischen können, aber sie lehnte sich stattdessen zu mir herab, und ihr Haar, das zwischen uns hing, roch viel zu gut. So kam es, dass ich gerade sacht an Nualas Unterlippe lutschte, als Dee zu uns auf die Veranda kam.
»Hallo, Dee«, sagte Paul. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Gesichtsausdruck schien zu sagen:
O-oh, holt schon mal die Marshmallows, Leute, gleich wird hier jemand gegrillt.
Nuala zog langsam die Lippe zwischen meinen Zähnen hervor und richtete sich auf, und ich schluckte, ehe ich den Kopf wandte und Dee ansah. Ich spürte den plötzlichen, irrationalen Drang, zu lachen.
Wie fühlt sich das an, Dee?
Dees Gesicht, von der untergehenden Sonne halb golden gefärbt, war wie versteinert. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich an. »Hallo, James.«
»Hi.« Meine Stimme klang gut. Locker.
Ach, hallo, Dee. Ich sitze nur gerade hier rum und esse Reis mit dieser superheißen Frau. Wie geht’s denn so?
Ein Lächeln breitete sich allmählich auf Nualas Gesicht aus.
»Ihr habt euch also was beim Chinesen bestellt?«, fragte Dee, obwohl das offensichtlich war.
»Nein«, sagte ich. »Paul hat einen Wagen gestohlen. Dann hat sich herausgestellt, dass er dem Fahrer vom Fortune Garden gehört. Das nenn ich doppeltes Glück.«
Sie lächelte nicht.
Nuala schon.
»Es ist noch reichlich da«, sagte Nuala. Sie betrachtete mich, und ich kannte sie gut genug, um den scharfen Unterton in ihrer Stimme zu hören. »Genug, um es mit anderen zu teilen.«
Dee sah mich an und sagte mit eisiger Stimme: »Paul und Megan kenne ich. Die anderen nicht.«
Eric war mit den »anderen«, für die sie sich interessierte, offensichtlich nicht gemeint, aber ich stellte ihn trotzdem zuerst vor. »Das ist Eric. Tagsüber ist er Hilfslehrer, und nachts kämpft er gegen das Verbrechen.« Ich sah Nuala an, die mich mit einem intensiven Blick anschaute, den ich nicht interpretieren konnte. Aber er weckte in mir den Wunsch, einen Kuli in die Hand zu nehmen. Den Wunsch, meinen Troststein aus der Tasche zu holen. »Das ist Nuala.« Ich dachte daran, die Worte
meine Freundin
hinzuzufügen, nur um Dees Reaktion darauf zu sehen. Stattdessen betrachtete ich Nualas Sommersprossen und Ozeanaugen und sinnierte darüber, dass sie völlig anders war als Dee, jetzt, da ich sie beide zusammen sah.
Ich merkte, dass ich Nuala zu lange angeschaut hatte. Ich blickte zu Dee auf und stellte fest, dass ihr Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte. Ihre Stimme allerdings war um ein paar weitere Grade kälter geworden. »Bist du auch Schülerin hier, Nuala?«
Nuala sah von mir zu Dee, und ich bemerkte die glühende Abneigung in ihren Augen. Sie überraschte mich irgendwie, denn Nualas Blick war nicht wie Megans neidisches Starren. Er war … tiefer. Er war … irgendwie … beschützend. Das hätte mir eine Heidenangst machen sollen, aber es fühlte sich gut an.
»Ich lerne hier eine Menge Dinge.« Nuala lächelte Dee mit
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