Mitternachtsmorde
weißt alles, was danach passiert ist. Zeitreisen löschen die Erinnerungen nicht aus. Wenn du sie überzeugen kannst … keine Ahnung, zum Arzt zu gehen und sich untersuchen zu lassen, dann kannst du ihr vielleicht das Leben retten.«
»Vielleicht?« Ruth hatte ihn entsetzt angesehen. Vielleicht? Sie würde Rebecca vielleicht ein zweites Mal sterben sehen? Das würde sie nicht ertragen.
»Manches lässt sich einfach nicht ändern«, hatte er ihr nachsichtig erklärt. »Vielleicht wird Rebecca nicht auf dich hören. Oder es bleibt euch nicht mehr genug Zeit, sie untersuchen zu lassen. Eigentlich würde ich dir raten, mindestens einen Monat vor ihrem Tod wieder aufzutauchen.«
»Aber bin ich da nicht schon da?«
»Nein, natürlich nicht. Wenn du diese Straße entlanggehst und dann umkehrst, bis du wieder an diesem Punkt ankommst, wirst du dir aber trotzdem nicht selbst begegnen. Falls du in die Zeit vor ihrem Tod zurückkehrst, wirst du alles wissen, was seither passiert ist, aber physisch wird es dich nur ein einziges Mal geben.«
Die Versuchung war ein bezauberndes Monstrum, und die Hoffnung war wie eine zerbrechliche Blüte, die kaum ihr dünnes Köpfchen zu erheben wagte. Rebecca wiederzusehen, ihre Tochter lebend und gesund geschenkt zu bekommen … »Und wenn sie doch auf mich hört? Wird sie dann mit mir in diese Zeit zurückkommen?«
»Das könnte sie, aber wieso solltest du das wollen? Wenn man einen so tiefen Eingriff vornimmt, dann … ordnet sich die Wirklichkeit neu. Anders kann ich es nicht erklären. Damit wirst du eine neue Realität schaffen, in der deine Tochter lebt, heiratet, eine Familie gründet. Und in der du mit ihr zusammen sein kannst.«
Da war er, der Dorn, der ihr tief ins Herz stach. Jetzt spürte sie ihn. »Aber was wird aus dir?«, fragte sie.
Das Lächeln, das er ihr schenkte, wirkte so liebevoll wie traurig. »Ich werde nicht bei dir sein.«
Das also war die Wahl, vor die er sie stellte: Sie konnte in die Vergangenheit reisen und Rebecca retten, aber das würde sie damit erkaufen, dass sie Byron verlor. Er konnte nicht in dieser Zeit bleiben, er konnte nicht auf sie warten. Er hatte einen Job zu erledigen, und danach würde er in seine eigene Zeit zurückkehren. Wenn sie nicht in die Vergangenheit reiste, um Rebecca zu retten, konnte sie mit ihm in die Zukunft reisen. Er bettelte nicht, er bohrte ihr keinen Dolch durchs Herz, indem er sie vor die Wahl zwischen ihm und ihrer Tochter stellte. Aber in seinen Augen sah sie das Wissen, dass er sie nie wiedersehen würde, wenn er ihr das schenkte, was sie sich am sehnlichsten wünschte.
Bis dahin jedoch würde sie ihn mit ihrem Körper und ihrer Seele lieben. Sie würde jede Sekunde mit ihm zusammen genießen, sie würde jede Kleinigkeit ihrem Gedächtnis anvertrauen: wie er redete, wie er sich bewegte, den Duft seiner Haut, das eine Grübchen, das sich beim Lachen in seiner Wange bildete. Sie würde ihn für die kurze Zeit, die ihnen vergönnt war, lieben, und zwar aus tiefstem Herzen.
Sie würde jeden Preis dafür zahlen, Rebecca zurückzubekommen.
Byron hatte einen Polizeifunkscanner mitgebracht, und sie hatten einer Flut von Durchsagen gelauscht. Ruth wusste nicht, was die einzelnen Codes bedeuteten, aber dafür hatte sie Byron. Er erzählte ihr, dass offenbar jemand tot zu Hause aufgefunden worden war, aber sie konnte die Meldungen aus dem Funkgerät kaum verstehen, und das ständige Quaken setzte ihr zu, weshalb sie das Geräusch auszublenden versuchte.
»Musst du dir das anhören?« Sie gab sich alle Mühe, nicht gereizt zu klingen.
»Ich ziehe meine Informationen aus dem, was die Polizei unternimmt«, antwortete er, aber er stellte das Gerät leiser. »Ich kann nicht einfach davon ausgehen, dass Tina die Frau ist, die wir suchen. Vielleicht ist Stover immer noch da draußen, und das hier gibt mir wenigstens eine Ahnung davon, was im County alles passiert.«
»Ich weiß. Entschuldige. Ich bin einfach nervös.« Sie rieb sich seufzend die Augen. »Soll ich noch mal anrufen? Manchmal reicht es, penetrant zu sein, damit jemand ans Telefon geht.«
Er nickte, und Ruth wählte erneut. Wieder klingelte das Telefon viermal, wieder schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Diesmal hinterließ sie keine Nachricht, sondern legte schweigend auf.
»Sie meldet sich nicht.«
»Wenn es dunkel ist«, sagte er, »fahren wir rüber.« Er schaute aus dem Fenster; die Sonne ging bereits unter, aber es würde noch mindestens eine Stunde
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