Mitternachtspalast
gewählte Familie und ein frei gewähltes Zuhause, wo Zufall oder Lügen nichts zu suchen hatten. Keiner von uns sieben kannte einen anderen Vater als Mr Thomas Carter und seine Vorträge über die Weisheit eines Dante oder Vergil und keine andere Mutter als die Stadt Kalkutta mit ihren Geheimnissen, die sich unter den Sternen der bengalischen Halbinsel verbargen.
Unser ganz besonderer Club hatte einen pittoresken Namen, dessen wahren Ursprung nur Ben kannte, obwohl einige von uns argwöhnten, er habe den Namen aus einem alten Versandkatalog aus Bombay. Jedenfalls wurde die Chowbar Society zu einem Zeitpunkt unseres Lebens gegründet, als die Kinderspiele im Waisenhaus keine Verlockung mehr für uns boten. Wir waren gewitzt genug, um uns abends, nachdem die gute Vendela die Nachtglocke geläutet hatte, ungestraft aus dem Gebäude zu unserem Clubsitz zu schleichen, dem geheimnisvollen und, so wurde gemunkelt, verwunschenen Haus, das seit Jahrzehnten verlassen an der Ecke Cotton Street und Brabourne Road stand, mitten in der
Schwarzen Stadt
und nur ein paar Blocks vom Hooghly River entfernt.
Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass dieser alte Kasten, den wir (in Anlehnung an die Uhrzeit unserer Versammlungen) stolz den Mitternachtspalast nannten, niemals verwunschen war. Daran, dass er in dem Ruf stand, verzaubert zu sein, waren wir nicht ganz unschuldig. Eines unserer Gründungsmitglieder, Siraj, der an schlimmem Asthma litt und ein versierter Experte für Grusel-, Geister- und Gespenstergeschichten in Kalkutta war, erfand eine entsprechend düstere und glaubhafte Legende über einen angeblichen früheren Bewohner. Das half dabei, Eindringlinge von unserem heimlichen Zufluchtsort fernzuhalten.
Kurz gesagt ging es in der Geschichte um einen alten Händler, der, nach unvorsichtigen, umherschnüffelnden Seelen dürstend, in ein weißes Laken gehüllt durch das Haus schwebte, mit Augen wie glühende Kohlen und spitzen Wolfszähnen, die zwischen seinen Lippen hervorbleckten. Die Sache mit den Augen und den Zähnen hatte natürlich Ben dazugedichtet, der nichts lieber tat, als sich Schauerszenarien auszudenken, gegen deren Grausamkeit Mr Carters Klassiker, auch Sophokles und der blutrünstige Homer, nicht ankamen.
Trotz ihres scherzhaft klingenden Namens war die Chowbar Society ebenso erlesen und exklusiv wie die Clubs, die in den edwardianischen Gebäuden im Zentrum von Kalkutta beheimatet waren und ihren Namensvettern in London nacheiferten. Salons, in denen sich bei einem Glas Brandy zu langweilen den vornehmen Angelsachsen vorbehalten war. Wir hingegen hatten hehrere Ziele, wenn es uns schon an einem prunkvolleren Rahmen fehlte.
Die Chowbar Society war vor allem zu zwei Zwecken gegründet worden. Zum einen, um jedem der sieben Mitglieder die Hilfe, den Schutz und die bedingungslose Unterstützung der anderen zuzusichern, unter allen Umständen, jeder Gefahr und Widrigkeit zum Trotz. Zum anderen, um das Wissen zu teilen, das jeder von uns erwarb, und es den anderen zur Verfügung zu stellen, so dass wir für den Tag gewappnet wären, an dem jeder von uns sich alleine der Welt stellen musste.
Jedes Mitglied hatte bei seinem Namen und seiner Ehre geschworen (wir hatten keine nahen Angehörigen, denen wir diesen Eid aufbürden konnten), diese beiden Ziele zu verfolgen und Stillschweigen über die Gesellschaft zu wahren. In den sieben Jahren ihres Bestehens wurde kein einziges neues Mitglied aufgenommen. Ich lüge – eine Ausnahme machten wir, aber an dieser Stelle davon zu erzählen, hieße, den Ereignissen vorzugreifen …
Es gab keinen anderen Club, dessen Mitglieder enger verbunden waren und wo ein Schwur größere Bedeutung hatte. Im Unterschied zu den Clubs der reichen Herren in Mayfair besaß keiner von uns ein Zuhause oder einen geliebten Menschen, die uns bei der Rückkehr aus dem Mitternachtspalast erwarteten. Und außerdem ließ die Chowbar Society in klarer Abweichung von den altmodischen Zirkeln für ehemalige Cambridge-Absolventen auch Frauen zu.
Ich werde also mit der ersten Frau beginnen, die den Schwur als Gründungsmitglied der Chowbar Society leistete, auch wenn sie zu dem Zeitpunkt, als die Zeremonie stattfand, von keinem von uns als Frau gesehen wurde (das galt mit ihren neun Jahren auch für sie selbst). Sie hieß Isobel und war, wie sie sagte, für die Bühne geboren. Isobel träumte davon, die Nachfolge von Sarah Bernhardt anzutreten, das Publikum vom Broadway bis zur Shaftesbury Avenue zu
Weitere Kostenlose Bücher