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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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wiederholen wollte. Ben war wie eine Wundertüte, voller Überraschungen und Geheimnisse, Licht und Schatten. Ben war mein bester Freund, und ich denke, er ist es immer noch, auch wenn wir uns seit vielen Jahren nicht gesehen haben.
    Über mich gibt es nicht viel zu erzählen. Nennt mich einfach Ian. Ich hatte nur einen Traum, einen bescheidenen Traum: Medizin zu studieren und Arzt zu werden.
    Ich erinnere mich, dass wir sieben Mitglieder der Chowbar Society in jenen letzten Maitagen des Jahres 1932 sechzehn Jahre alt wurden. Es war ein schicksalhaftes Alter, von allen gefürchtet und zugleich sehnsüchtig herbeigewünscht.
    Mit sechzehn Jahren entließ uns St. Patrick’s den Statuten gemäß in die Gesellschaft, damit wir zu Männern und Frauen heranwuchsen und verantwortungsvolle Erwachsene wurden. Aber dieses Datum hatte noch eine andere Bedeutung, die wir alle nur zu gut begriffen: Es bedeutete die endgültige Auflösung der Chowbar Society. Mit diesem Sommer würden sich unsere Wege trennen, und trotz unserer Beteuerungen und der frommen Lügen, die wir uns selbst verkauften, wussten wir, dass sich das Band, das uns einte, schon bald auflösen würde wie eine Sandburg am Meer.
    Ich habe so viele Erinnerungen an jene Jahre in St. Patrick’s, dass ich mich noch heute dabei ertappe, wie ich über Bens Einfälle und die phantastischen Geschichten lächle, die wir uns im Mitternachtspalast erzählten. Aber von all diesen Bildern, die sich dagegen sträuben, vom Strom der Zeit davongetragen zu werden, ist das vielleicht intensivste jene Gestalt, die ich oft bei Anbruch der Nacht im Schlafsaal zu sehen glaubte, den sich fast alle Jungs von St. Patrick’s teilten, ein langer, düsterer Raum mit hohen, gewölbten Decken, der an einen Krankensaal erinnerte. Ich vermute, es lag an meiner Schlaflosigkeit, an der ich bis zu meiner Reise nach Europa litt, dass ich Dinge sah, die um mich herum geschahen, während die anderen friedlich schliefen.
    Oft glaubte ich in diesem verwinkelten Saal ein schwaches Licht durchs Zimmer wandern zu sehen. Da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, setzte ich mich auf und versuchte den Lichtschein bis ans Ende des Raums zu verfolgen, und da sah ich sie, genau so, wie ich sie so oft in meinen Träumen gesehen hatte. Die zerfließende Silhouette einer in gespenstisches Licht gehüllten Frau beugte sich langsam über das Bett, in dem Ben lag und tief und fest schlief. Ich versuchte krampfhaft, die Augen offen zu halten, und glaubte zu sehen, wie die Lichtgestalt meinem Freund mütterlich übers Haar strich. Ich betrachtete ihr ebenmäßiges, durchscheinendes Gesicht, das von einem fahlen Leuchten umgeben war. Die Dame blickte auf und sah mich an. Ich empfand keinesfalls Angst, sondern versank in diesem traurigen, verletzlichen Blick. Die Prinzessin aus Licht lächelte mir zu, streichelte noch einmal über Bens Gesicht und löste sich dann in einem Regen aus silbernen Tränen auf.
    Ich stellte mir immer vor, dass diese Erscheinung der Geist der Mutter war, die Ben nie gekannt hatte, und hegte tief in meinem Herzen die kindliche Hoffnung, dass auch über mich eine solche Erscheinung wachte, falls es mir irgendwann gelingen sollte, einzuschlafen. Es war das einzige Geheimnis, von dem ich nie jemandem erzählte, nicht einmal Ben.

Die letzte Nacht der Chowbar Society

    Kalkutta, 25 . Mai 1932
    In all den Jahren, die Thomas Carter das St. Patrick’s leitete, hatte er mit der lässigen Überheblichkeit dessen, dem keine Materie fremd ist, Literatur, Geschichte und Mathematik unterrichtet. Das Einzige, worauf er seine Schüler nicht vorbereiten konnte, war das Abschiednehmen. Jahr für Jahr zogen die ängstlichen und erwartungsvollen Gesichter jener an ihm vorüber, die von Gesetz wegen nun den Einfluss und den Schutz jener Einrichtung hinter sich lassen würden, deren Leiter er war. Jedes Mal, wenn er sie durch das Tor von St. Patrick’s gehen sah, erschienen Thomas Carter diese jungen Menschen wie unbeschriebene Blätter. Seine Aufgabe war es lediglich, die ersten Kapitel einer Geschichte darauf zu schreiben, während sie zu vollenden ihm nie vergönnt war.
    Thomas Carter mit seiner düsteren, ernsten Miene neigte nicht gerade zu Gefühlsausbrüchen und wortreichen Reden, doch niemand fürchtete den schicksalhaften Tag, an dem diese Blätter sein Skriptorium für immer verließen, mehr als er. Nun würden sie in unbekannte Hände gelangen, die mit rücksichtsloser Feder düstere Epiloge

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